Elisabeth Tuider et al.: Sexualpädagogik der Vielfalt

Es folgt ein Gastartikel von Stephan Fleischhauer. Da der Text etwas länger ist, ist er ganz nur zu lesen, wenn man direkt den Artikel ansteuert (d.h. von den Übersichtsseiten aus sieht man nur den ersten Teil). Aktualisierung: Stephan weist darauf hin, dass der Text noch in der Entwurfphase war.

Vor einigen Tagen ist in der FAZ ein Artikel erschienen, der kritisch über die Entwicklung der Sexualaufklärung in den Schulen berichtet: „Unter dem Deckmantel der Vielfalt“ (Autorin Antje Schmelcher). Der Artikel weist auf das bemerkenswerte Buch Sexualpädagogik der Vielfalt hin, das von Elisabeth Tuider und anderen Autoren mit dem Untertitel Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit veröffentlicht wurde. Das Buch ist in zwei Auflagen erschienen, die 1. Auflage 2008, eine 2. überarbeitete Auflage 2012.

Die obligatorische Gendersprache ist etwas uneinheitlich. (Typographische Hervorhebungen durch Fettschrift in sämtlichen Zitaten sind von mir.)

Auch dieser 2. Auflage liegt diversitätssensibles Arbeiten zugrunde: Wir Autorinnen und Autoren haben wie viele andere Kolleg_innen in der vergangenen Zeit die Erfahrung gemacht, dass […]

[…]

Entsprechend dem fächerübergreifenden Prinzip, nach dem Sexualerziehung an deutschen Schulen geregelt ist, sind Lehrende aller Fachrichtungen – auch die Fachlehrer […].

Die Autoren des Buchs geben sich gesellschaftskritisch, bisherige Denkweisen sollen aufgebrochen werden. Es wird davon ausgegangen, dass unsere Gesellschaft von starrem Schubladendenken geprägt ist:

Zur Grundlage sexualpädagogischen Arbeitens und Handeln unter Diversityaspekten gehört deswegen die fortlaufende Reflexion, Sensibilität und Verstörung von Selbstverständlichkeiten.

[…]

Und durch verschiedene Argumente – das der Geburt, der biologischen Anlage, der Erziehung – wurde die Unverrückbarkeit unseres Geschlechts, unseres Begehrens und unserer kulturell-ethnischen Zugehörigkeit legitimiert. […] Klare Zuordnungen werden immer schwieriger […] und vor dem Hintergrund, dass Menschen sich zwischen den Polen Mann/Frau und zwischen den Polen heterosexuell/homosexuell positionieren, vielleicht auch überflüssig.

[…]

Was also die Arbeit mit dem Thema Identität von sexualpädagogisch Tätigen erfordert, ist nicht nur eine Erweiterung des pädagogischen Blicks auf Identitäten. Gefordert ist auch, immer mehr Abschied zu nehmen von altüberlieferten und lieb gewordenen Kategorien, die wir alltäglich einsetzen und in denen wir selbst uns auch bewegen.

Die Ansprüche der Autoren sind sehr hoch. Sie laufen darauf hinaus, dass die jungen Teilnehmer sich auch über persönliche und intime Dinge austauschen und gemeinsam liebevolle bis erotische Aspekte der Sexualität „erfahren“. Es sei darauf zu achten, dass die Teilnehmer wissen, worauf sie sich „einlassen“, denn es besteht die Gefahr von Verletzungen und Übergriffen:

Methodeneinsatz & Leitungspersönlichkeit
Eine grundlegende Aufgabe der pädagogischen Leitung ist es, Rahmenbedingungen bzw. eine Atmosphäre zu schaffen, die Vertrauen, Offenheit und Austausch unter den Teilnehmenden ermöglicht. Erst dann wird ein Austausch über Sexualität und Gefühle möglich, gegenseitigen Verletzungen, Demütigungen und übergriffigem Verhalten kann vorgebeugt und der bereichernde, liebevolle, sinnliche oder erotische Aspekt von Sexualität erfahren werden. In einem klar abgesteckten und geschützten Rahmen lässt sich einfacher über intime und persönliche Themen reden als wenn unklar ist, worauf sich die Teilnehmenden einlassen und wie mit Informationen über das Intimleben umgegangen wird.

Die „Verstörung von Selbstverständlichkeiten“ soll offenbar sehr weit getrieben werden. Dazu als Beispiel die Methode „Eindeutig mehrdeutig“ (Sämtliche im Buch aufgeführten Aufgaben und Übungen werden als „Methoden“ bezeichnet.) Zehn feststehenden das Liebesleben betreffende Personenaussagen sollen beliebige Bilder zugeordnet werden. Dabei darf auf dem Bild durchaus eine Kerze abgebildet sein:

Methode „Eindeutig mehrdeutig“ (S.73)
Ab 16 Jahren

Ziele
Die Teilnehmenden sollen bestehende Normierungen hinterfragen und die Beeinflussung von individuellen Wahrnehmungen durch gesellschaftliche Normierungen erkennen. Dabei können festgefahrene Denkmuster verwirrt und veruneindeutigt werden. Die Teilnehmenden sollen lernen, eventuell entstehende Verwirrungen und damit entstehende Unsicherheiten auszuhalten.

[…]

Zehn sehr gut ausgewählte Bilder, die die Frage nach dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung, dem Alter, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion nicht restlos beantworten bzw. weitgehend offen lassen (zum Beispiel: zwei ineinandergreifende Hände, eventuell mit unterschiedlicher Hautfarbe; Rückenansicht eines Paares, beide mit kurzem Haarschnitt und Hosen; mehrere Erwachsene und ein Kind; mehrere (halb-)nackte Personen; Mona Lisa; eine Kerze; SM-Performance; drag queen/king); 10 Papierstreifen mit je einem der folgenden Sätze darauf:
„Diese beiden erwarten Zwillinge.“
„Diese Person hat gerade den Eltern den neuen Freund vorgestellt.“
„Diese Person heiratet in zwei Tagen.“
„Diese Person denkt an die Geliebte.“
„Diese Person geht regelmäßig in einen Swinger-Club.“
„Diese Person hat schon einmal einen sexuellen Übergriff erfahren.“
„Diese Person verabredet sich gerade für heute Abend, um auf eine Schwulenparty zu gehen.“
„Diese Person hat seit drei Jahren eine heimliche Affäre.“
„Diese Person ist mit zwei Müttern und/oder zwei Vätern aufgewachsen.“
„Diese Person lebt von staatlichen Sozialleistungen.“

[…]

Die Bilder werden von der Leitung nebeneinander mit ausreichend Zwischenraum an die Wand gehängt. Die Jugendlichen gehen durch den Raum und betrachten die Bilder. Die Leitung erklärt, dass es zu jedem Bild einen kommentierenden Satz gibt und es die Aufgabe der Jugendlichen ist, diesen zu finden. Die Leitung liest jeweils einen Papierstreifen vor und gibt ihn an die Jugendlichen. Diese suchen nun das für die Gruppe passende Bild. Damit eine eindeutige Zuordnung erschwert wird oder nicht gelingt, stellt die Leitung folgende Fragen:
• Wieso seid ihr euch so sicher, dass der Text nur zu diesem Bild passt?
• An welchem Merkmal habt ihr eure Entscheidung festgemacht?
• Zu welchem Bild könnte der Text noch passen?
• Könnte es sich bei diesem Bild nicht auch um eine andere Person handeln als die, die ihr erkannt zu haben glaubt?

Das Ende der Methode ist offen. Es kann darin münden, dass
a) die Jugendlichen eine eindeutige und begründete Zuordnung vornehmen,
b) nicht alle Textzeilen zugeordnet werden,
c) eine Textzeile mehreren Bildern zugeordnet wird oder
d) es zu überhaupt keiner Zuordnung kommt.

Die Abschlussdiskussion kann mit folgenden Fragen angeregt werden:
• Welche gesellschaftlichen Erwartungen werden an jede/jeden von uns im Alltag gestellt?
• Welche dieser Erwartungen und Anforderungen sind bereits einmal an dich gerichtet worden?
• Woran hast du das gemerkt?
• Wie bist du damit umgegangen?
• Was kannst du tun, wenn du merkst, dass es dir schwer fällt, die Erwartungen anderer zu erfüllen?

Rolle der Leitung
Der Leitung kommt die Aufgabe zu, Verwirrung zu stiften. Diese muss von ihr zugelassen bzw. auch ausgehalten werden. Ferner obliegt ihr die Diskussionsleitung.

Hier soll ganz bewusst Verwirrung hergestellt werden. Fragwürdig an der Methode erscheint mir allerdings, dass die teilnehmenden jungen Menschen zunächst eine offensichtlich unlösbare Aufgabe bekommen, um dann die Lösungen dieser Jugendlichen – die ja nur verzweifelte Notlösungen sein können – anschließend zu dekonstruieren. Man stellt den jungen Leuten also zunächst eine Falle, und tut dann so, als hätten sie frei entschieden. Da das Ziel der Übung ist, „bestehende Normierungen“ zu „hinterfragen“, wird implizit unterstellt, die Jugendlichen hätten gemäß einer gesellschaftlichen Norm gehandelt. In Wirklichkeit wären sie von sich aus nie auf dermaßen abwegige Zuordnungen verfallen.

Interessant auch die „Arbeitsumgebung“, die für alle aufgeführten Übungen empfohlen wird:

Die Arbeitsatmosphäre vermittelt sich jedoch auch über die Gestaltung des Raums und der Umgebung. Deswegen sollte die Leitungsperson versuchen, gerade wenn es um Sexualerziehung geht, alle Sinne anzusprechen und nicht die alltägliche (Schul-)Situation zu reproduzieren. Je nach den Gegebenheiten in der Einrichtung und je nach persönlichem Stilempfinden haben Pädagoginnen und Pädagogen die Möglichkeit, unterschiedliche Materialien bei der Raumgestaltung zu verwenden. Verschiedene Stoffe, Lampen, Plüsch oder ein Sofa können eine gemütliche Atmosphäre herstellen,die zum Austausch und zu Gesprächen einlädt. Bilder können sowohl zur Verschönerung des Raums als auch zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit vielfältigen Aspekten von Sexualität beitragen. Musik kann den Jugendlichen die Entspannung bei Meditationen und Körperübungen erleichtern oder zu Bewegung und Aktivität anregen. Die Gestaltung einer sogenannten „Mitte“ im Zentrum eines Stuhlkreises mit Blumen oder das Bereitstellen von Süßigkeiten, Knabbereien, Obst oder Getränken in den Pausen, kann eine andere Arbeitsatmosphäre herstellen.

Der „Stuhlkreis“ hat eine zentrale Funktion, er wird bei quasi jeder Übung erwähnt.

Wer glaubt, dass in dem Buch nur mit herkömmlichen Vorstellungen der menschlichen Sexualität aufgeräumt wird, hat weit gefehlt. Den jungen Köpfen wird unsere altbekannte Patriachatsideologie eingetrichtert, süffisant-ironisch aufbereitet in der Methode „Die Blume der Macht“ (S.55):

Ziele
Die eigene Position in gesellschaftlich bedingten Machtverhältnissen soll bewusst gemacht
und reflektiert werden. Dabei können auch die mit einer gesellschaftlichen Innen- bzw. Außenposition verbundenen Vor- und Nachteile thematisiert werden. Verschiedene Formen von
Diskriminierung sollen benannt werden.

Altersstufe
Ab 16 Jahren

Geeignet als
Einstieg

[…]

Ablauf
Die Leitung teilt mit folgender kurzen Erklärung jeweils eine Kopie der „Blume der Macht“ an die Jugendlichen aus. „Wir alle definieren uns selbst anhand von verschiedenen Merkmalen und Eigenschaften. Wir alle haben aber auch in dieser Gesellschaft verschiedene Positionen, zum Beispiel als Mann oder als Frau, inne. Jedes Blütenblatt der Blume erfasst so eine Position bzgl. zum Beispiel Geschlecht, Sexualität oder Nationalität und Sprache. Schau dir die verschiedenen Blütenblätter der Blume an und markiere dann immer dasjenige Blütenblatt, das für dich zutreffend ist. Dann ergänze die leeren Felder mit weiteren Merkmalen und Eigenschaften, die für dich wichtig sind und benenne auch die entsprechenden Blütenblätter. Markiere wiederum das für dich zutreffende Blütenblatt.“ […]

Auf Google Books findet sich eine Abbildung der Blume der Macht. Auf den inneren Blättern: Deutsch, Mann, Hetero, Mittel- & Oberschicht, Weiß. Auf den äußeren Blättern: Nicht-Deutsch, Frau, Homo, Unterschicht, Schwarz

Dann erfolgt eine Thematisierung anhand folgender Fragen in der Gesamtgruppe:
• Welche verschiedenen Positionen nehme ich ein bzw. werden mir zugewiesen?
• Befinde ich mich gesellschaftlich immer im Zentrum der Macht also immer in den inneren Blütenblättern oder gehöre ich zum benachteiligten Rand, befinde ich mich also in den Außenblättern?
• Wie erfahre und erlebe ich die Position am Rand und wie jene im Zentrum?
• Wie kann ich in der bevorzugten und wie in der benachteiligten Position handeln?

Erfahrungen und Tipps
Die Erfahrung der Ohnmacht wie auch der Macht in den verschiedenen Positionen dürfen an dieser Stelle „einfach“ stehen bleiben und sollen nicht schön geredet werden. An dieser Stelle kann es auch zu Polarisierung in der Gruppe, in „wir“/ „ihr“ kommen, der von Seiten der Leitung entgegenzuwirken ist.

[…]

Rolle der Leitung
Wesentliche Aufgabe der Leitung ist bei dieser Übung die jeweiligen Positionen nicht zu individualisieren sondern gesellschaftlich zu definieren. Dementsprechend sind Benachteiligungen und Diskriminierung auch nicht mit dem individuellen Verhalten sondern mittels gesellschaftlicher Strukturen bestimmbar.

[…]

Dass Macht sehr individuell verteilt ist, soll offenbar geleugnet werden.

Gelegentlich werden im Buch vulgäre Begriffe (Puff, abspritzen) gebraucht, offenbar will man Distanz beseitigen. Bei der Methode „Der neue Puff für alle“ (ab 15 Jahren, S.75) geht es um folgende Fragestellungen:

1. Welches „inhaltliche“ Angebot muss der neue „Puff für alle“ bereithalten? Welche sexuellen Vorlieben müssen in den Räumen wie bedient und wie angesprochen werden?

2. Welche Innenraum-Gestaltung braucht es in den verschiedenen Räumen des Puffs? Für welche Personengruppen braucht es welche Voraussetzungen, damit sie in den Puff kommen können? Wie muss der Puff von außen gestaltet sein, damit er von allen möglichen Menschen aufgesucht werden kann und aufgesucht werden möchte?

3. Wer muss in diesem neuen Puff arbeiten? Welche Fähig- und Fertigkeiten brauchen die dort Arbeitenden damit alle möglichen Menschen bedient und zufrieden gestellt werden können? Was müssen die Menschen dort verdienen?

4. Wie muss eine Werbung für einen solchen Puff aussehen? Wie können alle möglichen Menschen gleichermaßen angesprochen werden? Wie sehen die Hinweise auf die Preisliste aus? Die Präsentation im Plenum umfasst zwei Phasen (wenn zuvor in Kleingruppen gearbeitet wurde):
1. Vorstellen der Überlegungen und Skizzen aus den vier Gruppen zu den verschiedenen Fragen
2. Gemeinsame Überlegungen, welche sexuellen Vorlieben bzw. welche Lebensformen und Menschen vergessen oder nicht berücksichtigt worden sind. Es wird auch darüber diskutiert, warum ggf. einige Menschen nicht berücksichtigt wurden, ebenso wie es aus Gründen gesellschaftlicher Moral, Erwartungen und Zuschreibungen angebracht sein kann, einige Menschen auch explizit nicht in einen „Puff für alle“ einzuladen.

[…]

Erfahrungen und Tipps
Jugendliche brauchen bei dieser Übung die Ermunterung, Sexualität sehr vielseitig zu denken. Sie müssen eventuell mehrfach darauf hingewiesen werden, dass es sowohl um vielfältige Sexualitäten als auch um verschiedene Lebensweisen und verschiedene sexuelle Praktiken und Präferenzen geht. Es macht also beispielsweise einen Unterschied, einen weißen heterosexuellen Mann in dem neuen Puff bedienen zu wollen oder einen weißen heterosexuellen Mann im Rollstuhl; Ebenso macht es Unterschiede, ein Angebot zu entwickeln für eine Frau mit muslimischer (oder katholischer) Religionszughörigkeit oder eine Trans-Frau, die beide lesbisch sind. […]

Schade, dass nicht angegeben wird, aus welchen „Gründen gesellschaftlicher Moral, Erwartungen und Zuschreibungen“ Menschen von diesem Puff ausgeschlossen werden könnten. Interessant auch, dass die Hautfarbe der Puffbesucher so eine wichtige Rolle spielen soll.

Neue Teilnehmer, die sich noch nicht so gut kennen, sollen sich gleich zu Beginn mit Vorurteilen „bekleben“:

Methode „Erster Eindruck“ (S.79)
Ab 10 Jahren

Ziele
Eventuelle Widersprüche von Selbsteinschätzungen und Fremdzuschreibungen sollen erfahrbar gemacht werden. Dabei soll die eigene Wirkung auf andere reflektiert werden. In diesem Zusammenhang können eigene Vorurteile und klischeehaftes Denken bewusst gemacht werden. Ferner soll nach Möglichkeit die Erfahrung gemacht werden, dass man dem ersten Eindruck nicht immer trauen kann. Altersstufe

[…]

Material
Vorbereitete DIN A4-Blätter mit Begriffen wie „Sternzeichen“, „Alter“, „Lieblingsessen“, „Lieblingssport“, „Hobby“, „Lieblingsbuch“ etc.; Klebeband; Stifte.

[…]

Ablauf
Die Jugendlichen erhalten einen vorbereiteten Papierbogen, den sie sich gegenseitig auf den Rücken kleben. Auf dem Papier stehen die oben genannten Begriffe. Dann bewegen sich alle zu dynamischer Musik durch den Raum. Wenn die Musik stoppt, schreiben alle einer Person, die am nächsten steht, eine Assoziation zu einem einzelnen vorgegebenen Begriff auf den Rücken.

Abschließend erfolgt im Stuhlkreis eine Vorstellungsrunde anhand des Bogens. Jede Person nimmt seinen/ihren Papierbogen vom Rücken und liest Aspekte ihrer Wahl, die auf dem Blatt eingetragen wurden, laut vor. Folgende Fragen können dabei beantwortet werden:
• Was trifft zu?
• Was liegt daneben?
• Was stimmt vielleicht?
Es obliegt dann den einzelnen Teilnehmenden, ob sie diese Eindrücke kommentieren oder korrigieren wollen („Ja, genau!“ oder „Stimmt ja überhaupt nicht!“) oder ob sie den ersten Eindruck unkommentiert lassen.

Erfahrungen und Tipps
Diese Methode eignet sich gut für ein erstes Kennenlernen unter völlig Fremden oder Teilnehmenden, die sich nicht gut kennen. Bei Gruppen, in denen schon viele miteinander gut bekannt und vertraut sind, wird es weniger Überraschungen und Aha-Erlebnisse geben. Es bietet sich dann an, kompliziertere,weniger alltägliche Kategorien zu wählen (zum Beispiel Religion/Glaube, größter Erfolg, Traumberuf etc.).

In der Vorstellungsrunde sollte kein „Outen“ betrieben werden, d. h. es obliegt den Teilnehmenden selbst, ob sie „Aufklärung“ betreiben wollen oder nicht! Die Musik soll gut ausgewählt sein, so dass sich alle schwungvoll durch den Raum bewegen.

[…]

Manche Gruppen müssen dazu ermuntert werden, gerade auch in die Felder etwas zu schreiben, in denen noch gar nichts steht, oder bei den Personen etwas hinzuschreiben, die noch nicht so viele Eindrücke auf ihrem Papier stehen haben.

[…]

Varianten
• Je nach Gruppe können auch persönlichere Themen aufgenommen werden und zum Beispiel Eindrücke zu „Was ich sexuell schon immer mal ausprobieren wollte“, „Was ich sexuell auf keinen Fall tun würde“ oder „Meine Lieblingsstellung/Lieblingssexualpraktik“ gesammelt werden.

[…]

Eine ähnliche Taktik wie beim dem Spielchen „Eindeutig mehrdeutig“: Die Jugendlichen sollen Vorurteile aussprechen – egal, ob sie tatsächlich welche hegen oder nicht – damit man ihnen anschließend zu erklären kann, wie schlimm solche Klischees sind (Ätsch-bätsch, reingefallen!) Wie man Outing verhindern will, wenn sich die Teilnehmer gegenseitig sexuelle Präferenzen zuordnen, hätten die Autoren einmal genauer erörtern sollen. Offenbar befürchtet man auch, dass einzelne Teilnehmer besonders viele Vorurteile angeheftet bekommen, denn es wird extra darauf hingewiesen, dass auf eine gleichmäßige Verteilung zu achten ist.

In der Methode „Galaktischer Sex“ (S.126, ab 15 Jahren) wird die menschliche Biologie dekonstruiert:

Ziele
Unbekannte Begriffe aus dem Bereich der Sexualität sollen geklärt werden. Einem zu engen Sexualitätsbegriff soll entgegengewirkt werden

[…]

In einem nächsten Schritt bilden die Teilnehmenden Kleingruppen und erfinden galaktische Sexpraktiken, die auf der Erde unbekannt sind. Sie überlegen, wer welchen Sex wann, wie, mit wem, unter Verwendung welcher Hilfsmittel hat. Die Kleingruppen werden mit verschiedenen Gestaltungsmaterialien ausgestattet und können sich selbst verkleiden, galaktisches Sex-Spielzeug entwerfen, erotische Musikstücke inszenieren oder …

Die Ergebnisse können in einer Ausstellung oder Performance präsentiert werden.

Wahrlich, die Einengung auf unsere menschliche Biologie ist viel zu eng! Da sollte man gleich ganz neue Formen einstudieren. Und was für Gewinn für die Gesellschaft, wenn man den Ungläubigen und Ewiggestrigen diese neuen Errungenschaften auch präsentieren kann!

Besonders gepannt bin ich, wie folgende Methode von Schülern und Eltern aufgenommen wird:

Methode „Gänsehaut“ (S.178)
Ab 10 Jahren

Ziele
Bei dieser Methode sollen unterschiedliche Körperreize und -empfindungen wahrgenommen werden. Sie kann dazu beitragen, das Entspannen- und Genießenkönnen zu fördern sowie einen respektvollen, behutsamen Umgang mit sich und anderen einzuüben.

[…]

Benötigter Platz/Raum
Großer Gruppenraum, damit die Teilnehmenden eventuell auf Decken liegen können. Der Raum sollte von außen nicht einsehbar sein.

[…]

Die Teilnehmenden bilden Paare. Sie vereinbaren, wer zuerst die Augen schließt und sich entspannt hinsetzt oder -legt. Aus den Materialkisten, die die Leitung bereitgestellt hat, werden einige Dinge herausgesucht, mit denen der/die Partner/-in auf der Haut, zum Beispiel am Arm, der Hand-Innenfläche, dem Hals oder Gesicht, dem Bein oder Rücken, gestreichelt wird. Hierbei kann mit unterschiedlichem Druck und verschiedenen Streichrichtungen vorsichtig experimentiert werden. Der/die Partner/-in kann versuchen zu erraten, mit welchem Material gerade gestreichelt wird. Dabei geht es auch um unterschiedliche Wahrnehmungen, wie sich was wo anfühlt, was angenehm oder unangenehm ist, an welchen Stellen des Körpers was wie gut empfunden wird und eventuell auch darum, welche Gefühle das auslöst.

[…]

Erfahrungen und Tipps

Während dieser Methode kann leise Hintergrundmusik zur Entspannung gespielt werden. Dünne Kleidung kann anbehalten werden, es muss sich niemand ausziehen. Bei jüngeren Jugendlichen oder Kindern ist es sinnvoll, explizit bestimmte Körperpartien von Berührungen auszusparen (zum Beispiel Haare, Po, Füße, Nierengegend, Innenseite der Oberschenkel).

[…]

In manchen Gruppen kann es angebracht sein, geschlechtshomogene Paare einzuteilen. Unter Umständen ist auch eine völlige räumliche Trennung in geschlechtshomogene Gruppen hilfreich.

Grundsätzlich ist es wichtig, vorab im Paar besprechen zu lassen, wo er/sie keinesfalls berührt werden möchte.

Rolle der Leitung
Die Leitung sorgt dafür, dass die einzelnen Paare ungestört sind, dass genügend Material vorhanden ist und eine angenehme Stimmung entsteht. Wichtig ist, darauf zu achten, dass niemand grob mit ihrer/seiner Partnerin bzw. ihrem/seinem Partner umgeht. Die Leitung akzeptiert auf jeden Fall den Wunsch nach Nicht-Teilnahme. Sie achtet während der gesamten Methode darauf, dass persönliche Grenzen eingehalten werden.

Varianten
Statt mit Material zu experimentieren, können auch verschiedene Massagetechniken zum Einsatz kommen, eventuell angeleitet durch eine kleine Geschichte oder vorgezeigt durch die Leitung. Auch hier ist auf Freiwilligkeit und ein gutes Gespür für die Grenzen der Teilnehmenden zu achten.

Wenn ich es richtig verstehe, ist es hier erwünscht, wenn sich die Teilnehmer am gesamten Körper gegenseitig massieren, die Innenseiten der Oberschenkel und der Po werden jedenfalls explizit erwähnt. Die anbehaltene Kleidung soll dünn sein. (Ob z.B. eine Jeans-Hose dünn genug ist, wird nicht erörtert.) Dem Titel nach zu urteilen, komm es bei dieser Übung regelmäßig zu einer Gänsehaut (möglicherweise weil die Teilnehmer in der dünnen Kleidung frieren?) Ich will hier nicht vorschnell urteilen, aber ich könnte mir vorstellen, dass viele Schüler in dieser Übung eine Anleitung zum Petting sehen.

Das erscheint mir durchaus heikel.

Man muss bedenken, dass hier auch ein Gruppendruck entstehen kann und dass nicht jedes Kind bzw. jeder Jugendliche sich einer entsprechenden Dynamik selbstbestimmt entziehen kann. Wenn alle das so toll finden, wie steht die Person da, die sich da lieber ausklinken will? Ich halte es auch für bedenklich, wenn Pädagogen glauben, dass sie ihre jungen Teilnehmer immer die entsprechende Sicherheit geben können. Woher wollen sie wissen, dass alle Teilnehmer ihre Wünsche immer selbstbewusst kommunizieren?

Im FAZ-Artikel wird die Meinung eines Staatsanwalts erwähnt: In dem Buch fänden sich ganz klar Anweisungen, die Pädophilen als Ermunterung zum Missbrauch von Kindern dienen könnten […]

Ich sehe das Problem hier allerdings nicht auf möglicherweise pädophil veranlagte Erwachsene beschränkt. Es sind ja die Kinder und Jugendlichen selbst, die dazu aufgefordert werden, sich gegenseitig zu stimulieren.

Was ist, wenn die Teilnehmer das Gelernte auch außerhalb der Übungen anwenden wollen? Es wäre widersprüchlich, wollte man es ihnen verbieten. Ziel ist ja, das Entspannen- und Genießenkönnen zu fördern sowie einen respektvollen, behutsamen Umgang mit sich und anderen einzuüben. Warum also nicht auch in der Pause respektvollen Umgang üben?

Da allerdings der Raum, in dem die Übung stattfindet, nicht einsehbar sein soll, wird hier eher vermittelt, dass solche Intimitäten nur unter abgeschlossenen Bedingungen stattfinden können. Mir stellt sich die Frage, welcher pädagogische Zweck wirklich dahintersteckt. Soll wirklich nur gegenseitiges Vertrauen und Körperwahrnehmung geschult werden? Oder geht es nicht eher darum, dass die jungen Teilnehmer zueinander zärtlich sind? Interessant ist da auch, dass „geschlechtshomogene“ Gruppen als „hilfreich“ gesehen werden. Soll hier Zärtlichkeit unter Gleichgeschlechtlichen geübt werden?

Dann wären wir ja recht nah an den oft erhobenen Vorwürfen, die neuen sexualpädagischen Richtlinen sollten die Schüler zum Schwulsein erziehen.

Krass finde ich auch die enorme Infantilität mancher Übungen:

Methode „Leckermäulchen“ (S.183)
Ab 16 Jahren, „bei gutem Gruppenklima und geübten Gruppen auch früher“

Ziele
Mit der Methode sollen die Sinne – in diesem Fall vor allem das Schmecken und Riechen –
angeregt werden. Die Teilnehmenden sollen Vertrauen entwickeln – sich von einer „fremden“
Person „füttern“ lassen. Allgemein geht es darum bewusste Sinneserfahrungen zu machen.

[…]

Ablauf
Die Teilnehmenden bilden Paare nach Sympathie. Die Paare werden geteilt, und eine Gruppenhälfte geht in einen anderen Raum. Denn beide Gruppen werden nun getrennt auf die Übung vorbereitet. Diejenigen, die gefüttert werden, werden auf die Empfindungen von Zunge, Mund, Geruch und auf die Spannung vorbereitet, beim Gefüttertwerden nichts sehen zu können. Die Fütternden werden darauf hingewiesen, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen nicht missbrauchen dürfen und umsichtig mit dieser sensiblen Erfahrung umgehen sollen. Die Person, die gefüttert wird, muss sich darauf verlassen können, dass sie nicht von oben bis unten vollgekleckert wird und ihr keine unzumutbaren Geschmackskombinationen in den Mund geschoben werden. Es darf aber überrascht, gespielt und experimentiert werden.

Nach dieser Einstimmung wird die erste Gruppenhälfte, die im ersten Durchgang füttert, in den Raum geführt und sie nimmt an der am Fußboden vorbereiteten Tafel Platz. Jede Person erhält einen Teller mit unterschiedlichen Lebensmitteln sowie Gläser/Becher mit Wasser und Fruchtsaft. Dann wird die zweite Gruppenhälfte mit verbundenen Augen hereingeführt und zu den vorher vereinbarten Partner/-innen gesetzt. Die Paare sitzen sich nun gegenüber auf dem Boden. Die sehende Person füttert ihr Gegenüber vorsichtig. Wenn alle Paare mit dem ersten Durchgang fertig sind, werden die Teller abgeräumt und die Rollen getauscht. Nachdem die Augen wieder verbunden sind, wird der zweite Durchgang gestartet (eventuell mit etwas variierter Zusammenstellung der Lebensmittel).

Zum Abschluss können die Paare sich über die Erfahrungen austauschen (wenige Fragen auswählen!): Hatte ich Vertrauen? Wie waren meine Gefühle, hat sich etwas im Verlauf der Übung geändert, was fühle ich jetzt? Hatte ich als Fütternde/-r Spaß? Was habe ich bemerkt? Was bedeutet es, nicht sehen zu können? Spielen Geschmack oder auch das bewusste Ausschalten des Sehsinns in meiner Sexualität eine Rolle?

Mir bleibt da eigentlich nur ein eher ziemlich unsachliches Resümee: Wie krank muss man eigentlich sein, um sich sowas auszudenken? Mir fällt da einfach nichts mehr zu ein.

Die unvermittelte Wendung ins Sexuelle am Schluss ist nicht untypisch für das Buch. Ähnliches findet sich auch bei der folgenden Übung, die vielleicht weniger infantil anmutet, dafür aber ein anderes Charakteristikum des Buchs gut widerspiegelt: Den Hang zur esoterischen Gefühlsduselei.

Methode „Die Welt ist Klang“ (S.186)
Ab 10 Jahren

Ziele
Mit der Methode sollen bewusste Sinneserfahrungen angeregt werden. Bei Teilnehmenden mit eigenen sexuellen Erlebnissen können diese Erfahrungen auch mitsamt ihrer Bedeutung für die Sexualität wahrgenommen werden.

[…]

Die Teilnehmenden suchen sich einen guten Platz allein im Raum (mit Decke). Eine kurze Entspannung wird angeleitet mit dem Hinweis, dass nun das Gehör ganz im Mittelpunkt steht und alle anderen Sinne in den Hintergrund treten sollen. […] Wenn alle leise sind und die Augen geschlossen haben, sind verschiedene Geräusche nacheinander zu hören:
• Sand in eine Schale schütten,
• Wasser in eine Schüssel gießen,
• Stoff durch die Hände ziehen,
• Löffel in einer Tasse kreisen,
• mit einer Chipstüte knistern,
• Reis auf einen Teller schütten,
• Chinesische Kugeln erklingen lassen,
• Zweige zerbrechen,
• pfeifen, klatschen, schmatzen o. Ä.,
• Glöckchen oder andere Musikinstrumente klingen lassen […]

Es sollen sowohl alltägliche wie auch außergewöhnliche Geräusche und Töne dabei sein, angenehme wie auch eher unangenehme, laute und leise, nahe und ferne. Wenn die Konzentration nachlässt, werden die Teilnehmenden wieder aus der Entspannung herausgeführt und sollen sich mit ihrer/m Nachbar/-in über die Wahrnehmungen und die jeweilige Wirkung unterhalten:
• Welche Geräusche habe ich wahrgenommen?
• Was war angenehm, was nicht?
• Welche Gefühle haben die Geräusche und Töne in mir ausgelöst?
• Was höre ich gerne, was nicht?

Frage für sexuell erfahrene Teilnehmende:
• Wie wichtig ist das Hören bei mir in der Sexualität?
• Was höre ich gerne beim Sex?

Rolle der Leitung
Bei sexuell erfahrenen Teilnehmenden geht es auch darum, auf den Zusammenhang von Sexualität und Sinneserfahrungen/Hören hinzuweisen und diesen anhand konkreter Beispiele (Klingeln an der Tür, lautes Stöhnen, Eisenbahnrattern, Musik, Kindergeschrei, Elterngespräch in der Küche, dirty talk etc.) zu thematisieren.

Der Wechsel ins Sexuelle (lautes Stöhnen, Dirty Talk) ist wieder völlig zusammenhanglos – die genannten Beispiele sind ja nicht bloß Geräusche oder Klänge, die bloß einen mehr oder weniger ästhetischen Klangeindruck hinterlassen. Es handelt sich hier vielmehr um Formen von Kommunikation, die auf eine ganz andere Weise erfasst wird als die vorgenannten Klänge. Was hat des Geräusch von fallenden Sand mit Dirty Talk gemeinsam – außer der banalen Tatsache, dass beides mit einem Schallereignis verbunden ist?

Was bringt den Schülern diese Übung überhaupt? Lernen sie etwas Neues, das sie noch nicht wussten oder konnten? Soll Stöhnen und Dirty Talk auch vorgeführt werden?

Auf dem Blog alexandervonbeyme.net meldet sich der Kommentator Mel zu Wort, der nach eigener Aussage einen Teil der Methoden des hier besprochenen Buchs in Schulen praktisch umsetzt. Er kann sich natürlich nur zu Gruppen äußern, die er selbst betreut. Einige heikle Übungen werden dort wohl gar nicht erst angeboten:

Da das vorhin mal so anklang: Es geht definitiv an keiner Stelle darum, Sexualpraktiken zu beschreiben. In unseren Workshops kommen solche Themen nur dann zur Sprache, wenn es von den Schüler_innen so gewollt ist. Sie haben die Möglichkeit, anonym Fragen in eine Zettelbox zu werfen, auf die wir auch antworten. Da kommen häufig Fragen wie “wie können zwei Frauen denn überhaupt Sex miteinander haben”. Meistens kann man sogar schon in der jeweiligen Klasse voraussehen, ob die Frage kommt oder nicht. Wir versuchen dann, die Frage so zu beantworten, dass die Person die gefragt hat, eine zufriedenstellende Antwort hat, ohne dabei irgendwie detailliert oder anschaulich irgendwas zu beschreiben. Und das, wie gesagt nur, wenn wir gefragt werden! Ansonsten geht es um die Akzeptanz von Lebensweisen und nicht um Sexualpraktiken!

Er bezieht sich immerhin konkret auf die Methode „Erster Eindruck“:

Ach ja: zu dem Thema mit den Zettel auf dem Rücken und dem Problem, dass hier als Alternative auch das mit Sexualpraktiken steht… Workshops zu dem Thema werden von verschiedensten Personengruppen angefragt, teilweise auch von Pädagog_innen, die eben mit dem Thema bisher noch nicht so viel Berührungspunkte hatten. Wir haben für mehrere Methoden einen Bogen für Schulklassen und einen Bogen für Erwachsene. In dem Bogen für Erwachsene kann es schon sein, dass so etwas mal drin steht. Auch hier gilt ja die Freiwilligkeit und von Erwachsenen denke ich, durchaus verlangen zu können, dass sie selbst entscheiden können, was sie von sich preisgeben möchten und was nicht. In den Bögen für Schulklassen steht das selbstverständlich nicht drin. Das Buch gibt keine konkrete Ratschläge, was in der Schule vermittelt werden sollte und ist mitnichten als eine Art “Lehrplan” zu verstehen, sondern dient als Materialsammlung, die (hoffentlich) üblicherweise von Menschen verwendet wird, die sich schon mal mit dem Thema auseinandergesetzt haben und in irgendeiner Weise auch für die Arbeit mit Jugendlichen zu diesem Thema geschult sind.

Das Buch richtet sich allerdings nicht an Erwachsene. Die Altersangaben gehen von ab 10 bis ab 16. Was der Sinn davon sein soll, Leute dazu anzuhalten, sich gegenseitig Vorurteile auf den Rücken zu schreiben, sagt er leider nicht.

Mit den Altersangaben konfrontiert, äußert sich Mel folgendermaßen:

Na ja, so bisschen gesunden Menschenverstand haben die Autor_innen wohl schon vorausgesetzt beim Verfassen ihres Buches. Die Methode ist ab 10 Jahren, das bedeutet nicht, dass alle Vorschläge zur Variation der Methode auch ab 10 Jahren sind. Und dass es Quatsch ist, 10-jährige nach ihren bevorzugten Sexualpraktiken zu fragen, leuchtet doch wohl jedem denkfähigen Menschen ein!

Das mag sein, aber das Buch richtet sich definitiv nicht an Erwachsene. Die Bedenken bezüglich der ausgeübten Gruppenzwänge und einer daraus begründeten eingeschränkten Freiwilligkeit kontert Mel so:

Zur Freiwilligkeit: Ich kenne es durchaus, dass die Jugendlichen in manchen Methoden, in denen sie sich zum Beispiel in eine Situation hineinversetzen sollen, reagieren mit “Äh, das find ich doof!” oder “Ne, das kann ich mir gar nicht vorstellen.” und dann nicht weiter mitmachen. Sie haben dann auch immer die Möglichkeit entweder im Raum zu bleiben und weiter zuzugucken oder zu der Lehrkraft zu gehen, die üblicherweise im Schulhaus irgendwo ansprechbar ist.

Die Kinder, die nicht mitmachen wollen, müssen sich also aus der Gemeinschaft ausklinken. Es stellt sich auch die Frage, was die „üblicherweise im Schulhaus irgendwo ansprechbare“ Lehrkraft mit den Aussteigern anfangen soll. nach Hause schicken? Irgendwie beschäftigen? Es können immer wieder andere Schüler sein. Ein vernünftiger Unterricht wäre deshalb kaum möglich. Eine echte Freiwilligkeit würde eigentlich voraussetzen, dass die Schüler zuvor über den genauen Ablauf informiert werden und die Durchführung einstimmig beschließen.

Interessanterweise erwähnt Mel brenzlige Situationen:

Es wäre für eine_n Jugendliche_n tatsächlich ziemlich ungünstig, sich im Rahmen eines Workshops zu outen. Schließlich sind wir nur diese paar Stunden oder diesen einen Vormittag in der Schule, er_sie fühlt sich dadurch plötzlich in Sicherheit, outet sich, ohne sich wirklich über die möglichen Konsequenzen klar zu sein und ist dann aber alleine mit der Situation. Da das tatsächlich eine ziemlich brenzlige Situation. Wir haben darüber in unseren Qualifizierungsmaßnahmen ausführlich gesprochen und ich hoffe, dass es mir, sollte mir so eine Situation in einem Workshop begegnen, gelingen wird, entsprechend zu reagieren bzw. die Situation vorher schon abzuwenden. Mit etwas Glück bekommt man es ja schon vorher mit, dass sich jemand persönlich angesprochen fühlt, und mit sich ringt, sich zu outen.

Allerdings sieht er seine „Workshops“ auch als Hilfestellung:

Um wieder von dem hypothetischen schwulen Jungen in der Klasse zu sprechen: Es hilft ihm, zu sehen, dass er nicht alleine ist mit dem Thema, dass es andere Schwule und Lesben (ganz real, nicht nur gespielt im Fernsehen) gibt, dass Klischees zutreffen können aber nicht müssen und auch die LGBT*-Szene in sich bunt und vielfältig ist. Es hilft ihm, zu sehen, wie seine Klassenkamerad_innen auf den Workshop reagieren um abschätzen zu können, mit wem er vielleicht über seine sexuelle Orientierung sprechen kann und mit wem vielleicht (momentan) besser nicht. Es hilft ihm, weil auch er selbst im Rahmen des Workshops weiter Informationen zu dem Thema bekommt und Material dazu, in dem er auch Ansprechpartner_innen findet, an die er sich wenden kann, egal, ob er ne persönliche oder anonyme Beratung möchte, Jugendgruppen finden möchte, in denen er andere lgbt*-Jugendliche treffen kann…

Ich habe allerdings erheblich Zweifel daran, dass ein Jugendlicher die Einstellungen seiner Klassenkameraden in der Workshop-Situation besser einschätzen als sonst. Denn unter der Aufsicht von von Lehrpersonal kann man nicht erwarten, dass sich Schüler unverstellt verhalten. Wer sich unter Aufsicht als tolerant darstellt, ist es noch lange nicht auf dem Pausenhof. Manche Pädagogen scheinen eine Neigung zur Selbstüberschätzung zu haben. Sie verstehen nicht, dass es Bereiche gibt, die sich ihrer Kontrolle entziehen.

Mel beziffert den Anteil homosexueller Jugendlicher recht hoch, nämlich auf 5-10%:

Es geht ja, wie gesagt, nicht primär darum, mit dem Workshop die 5-10% homosexueller Jugendlicher zu erreichen, sondern eine breite Mehrheit für das Thema zu sensibilisieren. Ich habe mich nur vorhin nur auf deine Frage bezogen, was das einem homosexuellen Jugendlichen denn bringt.

Es ist sicherlich rübergekommen, dass ich von den Methoden dieser „Sexualpädagogik der Vielfalt“ nicht viel halte. Unsere Gesellschaft wird dort dargestellt, als bestünde sie aus den letzten Hinterwäldlern. Es ist offenkundig, dass man sich hier selbst beweihräuchern will. Ich empfinde es darüber hinaus als äußerst unangenehm, wenn Erwachsene – vor allem innerhalb staatlicher Institutionen – sich dermaßen in private Gefühle und Vorstellungen der Kinder und Jugendliche hineindrängen. Man glaubt, mit den Schülern einen Hebel gefunden zu haben, radikale Patriarchats- und Genderideologien in die Gesellschaft zu drücken. Bunte und queere Fantasien sollen gleichberechtigt neben dem Fachunterricht stehen. Den Naturwissenschaften und der Biologie wird misstraut – sie reichen angeblich nicht mehr aus. Schüler werden zu Kleinkindern degradiert, werden gefüttert wie Babys, sollen von ihren Gefühlen schwurbeln wie Esoteriker von Grenzerfahrungen, und wenn einem Kind das ganze nicht passt, muss es sehen, dass es den „irgendwo greifbaren“ Lehrer findet, der es dann anderweitig beschäftigt. Die Möglichkeiten, Schülern den Schutz ihrer Intimsphäre zu bieten werden völlig überschätzt. Sie werden deshalb Gegenstrategien entwickeln: sie werden etwas vorspielen, was sie nicht sind. Man wird nichts anderes erreichen als dass Schüler versuchen, sich konform zu verhalten. Dieser Zwang lässt sich gar nicht durchbrechen, schon gar nicht von Leuten, die glauben, auf einer moralisch höheren Stufe zu stehen. Schließlich werden die Schüler sogar der Gefahr einer sexuellen Belästigung ausgesetzt – damit sie eine Gänsehaut erleben dürfen.

Dieser Versuch der Einflussnahme am regulären Schulbetrieb vorbei erinnert mich in bisschen an die obligatorischen Scheine im Bereich Gender Studies, die manche Universitäten von ihren Studenten verlangen. Normalerweise werden Schulbücher und Lehrpläne ja einer behördlichen Kontrolle unterzogen. Es wäre interessant, zu erfahren, welche Maßstäbe im Fall der an den Schulen bereits praktizierten Methoden angesetzt wurden.

40 Kommentare zu „Elisabeth Tuider et al.: Sexualpädagogik der Vielfalt“

  1. Im Großen und Ganzen sehe ich das, was ich bisher von diesen Methoden gelesen habe, auch sehr kritisch. Aber bei der von dir erwähnten Übung „Gänsehaut“ liest du glaub ich deutlich mehr rein als da steht:

    Du schreibst, Po und Innenseite der Oberschenkel seien ausdrücklich erwähnt. Richtig. Allerdings steht da eben ausdrücklich, dass diese Stellen NCHT mit einbezogen werden sollen:

    „Bei jüngeren Jugendlichen oder Kindern ist es sinnvoll, explizit bestimmte Körperpartien von Berührungen auszusparen (zum Beispiel Haare, Po, Füße, Nierengegend, Innenseite der Oberschenkel).“
    Darüber hinaus kann ja offenbar jeder Teilnehmer eigene Grenzen bestimmen.

    Und dann argwöhnst du, dass mit folgender Formuierung:

    „In manchen Gruppen kann es angebracht sein, geschlechtshomogene Paare einzuteilen. Unter Umständen ist auch eine völlige räumliche Trennung in geschlechtshomogene Gruppen hilfreich.“

    womöglich gleichgeschlechtliche Zärtlichkeit geübt werden soll. Hier geht glaube ich deine Fantasie mit dir durch. Es ist einfach völlig normal, dass viele Kinder/Jugendliche unsicher gegenüber dem anderen Geschlecht sind, sich schämen, sich nicht entspannen können. In diesem Alter bilden Schüler doch eigentlich immer gleichgeschlechtliche Cliquen. Und sich vom besten Kumpel /der besten Freundin bei irgendeinem seltsamen Spiel mit einer Feder kitzeln zu lassen ist halt was anderes als wenn man da vielleicht seinem heimlichen Schwarm gegenübersitzt.

    1. “Bei jüngeren Jugendlichen oder Kindern ist es sinnvoll, explizit bestimmte Körperpartien von Berührungen auszusparen (zum Beispiel Haare, Po, Füße, Nierengegend, Innenseite der Oberschenkel).”
      Darüber hinaus kann ja offenbar jeder Teilnehmer eigene Grenzen bestimmen.

      aber genau so steht es doch dort, siehst du es nicht?

      “Bei jüngeren Jugendlichen oder Kindern ist es sinnvoll, explizit ……

      -> jüngere

      siehst du es jetzt.

      Bei allen anderen eben nicht.

      Es ist die feinheit des Lesens, welche zur Erkenntnis führt.

      anonym

      PS: ich weis nicht wem ich danken soll, dass meine Kinder schon erwachsen sind.

  2. „radikale Patriarchats- UND Genderideologien in die Gesellschaft zu drücken“

    Das sehe ich durchaus genauso. Bei diesen Leuten, denen es vorgeblich um Toleranz geht, nimmt der weiße, heterosexuelle Mann eine Sonderstellung ein. Er bildet das unverrückbare Zentrum der Macht, von dem alles Schlechte ausgeht. Weiße, heterosexuelle Männer sind im Gegensatz zu anderen Menschen besonders rücksichtslos und intolerant.

    Und es ist natürlich nicht davon auszugehen dass dieses vermittelte Bild weiße Jungen belastet, nicht wahr?

    Wird dadruch das heterosexuell, weiß und männlich immer in einem Satz und immer wieder in den Zusammenhang mit Macht und Privilegien gebracht wir, diese Stereotype nicht gerade erst auch eingeimpft?

    Gibt es zu solchen Projekten eigentlich schon Langzeitbeobachtungen? Sind die Kinder später tolerantere Erwachsene?

  3. Ganz kleine Bitte @Graublau. Was ist denn nun von Stephan Fleischhauer und von dir? Vielleicht ist es nur eine Formatierungsfrage und ich bitte, dass nicht falsch zu verstehen.

    Denn die Buchzitate dieser Tuider sind schon erschütternd genug.

    1. Nur der erste Abschnitt, in dem ich erwähne, dass es ein Gastartikel ist, stammt von mir. Der Rest ist mir 1:1 so von Stephan Fleischhauer zugesandt worden. Ich habe das jetzt etwas deutlicher gemacht, indem ich den ersten Abschnitt kursiv gesetzt habe.

      1. Es ist immer noch nicht klar, welcher Teil des Textes von Herrn Fleischhauer stammt, und welcher von Dir.

      2. Moment, zurück. Jetzt habe ich es verstanden. Also ist der Artikel in Gänze von Herrn Fleischhauer, ja?

      3. Richtig. Ich tue mich immer schwer damit, einen Gastartikel ganz kommentarlos zu veröffentlichen. Andererseits soll es auch nicht zuviel Vorspann werden. Vielleicht nächstes Mal noch ein deutlicherer Hinweis, so etwa „ab jetzt Gastautor XY“.

  4. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass wenn Tuiders Buch wirklich Teil des Schulcurriculums werden soll, die Strafbarkeit von Homosexualität oder zumindest eine russische Politik der Tabuisierung und Ächtung, über kurz oder lang wieder als ernsthafte politische Forderung in den Raum gestellt wird.

    Das ist auf jeden Fall nicht das, was ich von den Bildungsplänen erwarte.

  5. „Das Buch richtet sich allerdings nicht an Erwachsene.“

    Natürlich richtet sich das Buch an Erwachsene. Methodensammlungen werden ja von Lehrern gelesen und nicht von Schülern.

    Ansonsten: Typische „neue Lernkultur“, voll an der Sache vorbei gehend, peinlich, nicht umsetzbar, wie 95% der Inhalte, die wir in unseren Methodikseminaren behandeln. Als Lehramtsstudent lächelt und nickt man da und macht es anders von dem Moment an, ab dem man erstmals selbstständig eine Klasse leiten darf.

    1. Das höre ich in meinem Freundeskreis von den gewordenen Lehrern auch häufig. Solange genug der tatsächlichen Lehrer diese Pseudodidaktik nicht verinnerlichen, sondern nur im Ref über sich ergehen lassen ist in der Realität alles halb so wild, das stimmt schon. Schlimm ist es trotzdem.. Eine ganze Wissenschaft korrumpiert und wird von der eigenen Zielgruppe, den Lehrern, ignoriert, weil sie ihre „Konzepte“ auf völlig untaugliche Theorien und Annahmen über die Wirklichkeit stützen.

    2. Hallo Robin,

      würdest du mir das bitte näher erklären?

      Auf Grund welcher, in deinem Studium zum Lehramt erlernter, Studieninhalte, würdest du es anders machen?

      1. Auf Grund keiner. Nichts, was ich gelernt habe lässt mich zu dem Schluss kommen, sondern gesunder Menschenverstand.
        Die universitäre Ausbildung von Lehrern ist eine Farce. 90% aller Seminare sind für die Tonne, dafür fehlen tausend Sachen, die wesentlich wichtiger wären. Der Praxisbezug geht gegen null. Ich habe in 5 Wochen Schulpraktikum mehr gelernt als in 5 Jahren Erziehungswissenschaften.

      2. „… lässt mich zu dem Schluss kommen, sondern gesunder Menschenverstand.“

        So ist es leider. Das Augenmaß scheint der Didaktik als universitäres Lehr- und Forschungsgebiet an vielen Stellen verlorengegangen zu sein. Beispiele sind nahezu ans Absurde grenzende Lehrkonzepte, wonach die Schüler in Gruppen arbeiten und sich gegenseitig korrigieren oder den Lehrstoff selber interessegeleitet erarbeiten. Diese Konzepte funktionieren vielleicht bei Überfliegern, aber nicht in einer Durchschnittsklasse. So etwas kann man fallweise vorsichtig dosiert anwenden, aber nicht zwanghaft als Normalbetrieb. Genau das wird aber von oben verordnet. Ein Referendar muß heute den Fachleitern in seinen Vorführstunden diese Mode-Konzepte vorführen, wenn er eine gute Note und Chancen auf einen Job haben will. Die Vorführstunden werden deshalb komplett getürkt, wenn irgend möglich.
        Ich kenne einige Lehrer und Lehramtsstudenten, das Problem scheint querbeet über alle Fächer aufzutreten, mal mehr, mal weniger. Die Krise der Didaktik ähnelt der Krise in der Soziologie: Diese Fächer ziehen Ideologen und gesellschaftliche Missionare wie ein Magnet an, und dieser Typus Fachvertreter dominiert irgendwann den ganzen Betrieb und wird meinungsbildend.
        Vor dem Hintergrund dieses fächerunabhängigen Problems sind die sexualpädagogischen Konzepte von Tuider und Co., vor allem deren Ideologiegetriebenheit, schon weniger ungewöhnlich, deshalb aber keineswegs brauchbarer. Bei diesem speziellen Thema kommt hinzu, daß die ganze Denkweise extrem übergriffig ist, physisch und psychisch. Nichts gelernt aus dem Odenwald-Skandal. Nicht verstanden, daß solche „Schönwetterkonzepte“ risikobehaftet sind – zumal mMn die Lehrer hier völlig überfordert werden – und die Risiken sich statistisch früher oder später materialisieren werden.

      3. Danke Robin, gesunder Menschenverstand ist immer Gut, schön zu lesen das es noch Studenten gibt die selber denken.

        Viel Erfolg noch.

        anonym

      4. Auch „gesunder Menschenverstand“, oder ein „common sense“, geht ja von stillschweigenden Voraussetzungen aus und entscheidet nicht auch dem Nichts. Insofern ist es m.E. schon möglich, genauer zu beschreiben, was Tuider et.al. eigentlich fehlt.

        Zunächst einmal sind solche Konzepte Ergebnis der strikten Trennung von Theorie und Praxis, Uni und Schule. Viele Dozenten und Profs an der Uni haben nie oder kaum an Schulen unterrichtet, viele Lehrkräfte haben mit Beginn ihres Dienstantritts nie wieder etwas mit der Uni zu tun. Dabei würde es auch der Praxis gut tun, ab und zu mal durch die Beschäftigung mit theoretischen Entwürfen etwas Distanz zum Alltag zu bekommen.

        Vor allem aber können die pragmatischen Zwänge des Alltags durchaus heilsam sein. Wer eine Klasse leiten muss, entwickelt halt mit der Zeit einen Sinn dafür, was dabei sinnvoll ist und was nicht. Man bekommt im Allgemeinen auch ein Gespür dafür, wann man die Grenzen von Kindern und Jugendlichen verletzt – weil sie darauf nämlich reagieren. Tuiders Konzepte sind in meinen Augen pragmatischen Zwängen oft sehr enthoben, oder ihre Entwicklung ist nur so zu verstehen.

        Zweites Problem: Gerade die Schulpädagogik ist in Deutschland seit Jahrzehnten massiv politisiert, und zwar von mehreren Seiten. Eigentlich ist das Geschehen seit Eh und Je blockiert durch die Schützengräben von Gesamtschulbefürwörtern und -gegnern. Ohne diese Frontstellung zwischen „Progressiven“ und „Konservativen“ (in der jeder aufpassen muss, nicht durch allzu offene Selbstkritik den „Feinden“ in die Hände zu spielen) wären z.B. die jahrzehntelangen Vertuschungen der Verbrechen im Odenwald kaum möglich gewesen.

        So entstehen dann auch viele Absurditäten der Lehrerausbildung. Unter Kollegen belustigen wir uns manchmal erstaunt darüber, was Referendare jetzt so machen müssen – weil es oft tatsächlich Konzepte sind, die bloß am Reißbrett einen Sinn ergeben, und hinter denen dann jeweils eine bestimmte schulpolitische Glaubensrichtung erkennbar ist.

        Das Problem ist also nicht grundsätzlich eines der Pädagogik – ich habe auch sehr überzeugende Pädagogen und Didaktiker kennen gelernt, und ich selbst habe schon an der Uni viel gelernt, was ich nun seit Jahren gut gebrauchen kann. Das Problem ist eines der Theorie-Praxis-Trennung und der (von allen Seiten betriebenen) politischen Okkupation des Bildungswesens.

      5. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die besten EW-Dozenten Psychologen waren. Studierte Pädagogen dagegen waren furchtbar. Komischerweise die ehemaligen Schullehrer genauso – da sollte man doch meinen, die wüssten, von was sie reden.

        Beispiel: Ein Dozent (ehemaliger Lehrer) in einem Seminar, in dem es um Methoden und unsere eigene Performance ging, ließ uns alle in Gruppen Kurzreferate halten und die Kommilitonen bewerteten unseren Auftritt mithilfe einer Liste. Da standen dann Dutzende Kriterien drauf wie „Füllwörtermenge“ und tatsächlich hat dann jeder einzelne beim Feedback etwas zur Füllwörtermenge gesagt.

        Anderer Dozent (Psychologe), es ging ebenfalls um das Performen vor der Klasse: Meinte, wir sollten uns so geben, wie es zu uns passt. Der war da unglaublich offen. „Und wenn Sie eben der Typ sind, der mit Händen in den Taschen da steht, dann tun Sie das eben!“
        Jedenfalls hat der den Leuten, die nicht wissen, was sie beim Vortrag mit ihren Händen machen sollen den Tipp gegeben, einen Stift in die Hand zu nehmen. Seitdem mache ich das immer so. Das war die reinste Offenbarung für mich. Plötzlich kann ich viel freier reden, bin entspannter und gelassener. Okay, ich habe dabei einen Stift in der Hand, was irgendwie schlechter Stil ist – aber ist das, verglichen mit den Vorteilen, jetzt wirklich sooo schlimm? Dozent 1 hätte das mit „ja“ beantwortet und mir dafür jedes Mal einen Minuspunkt gegeben.

        Sobald es um Schüler geht, ist das ganz genauso. Aber bezüglich der Methodensammlung sehe ich da (@mitm) trotzdem keine Übergriffigkeit, die noch dazu potentiell gefährlich wäre. Das erscheint mir dann eher wie Panikmache.
        Ich schreibe vielleicht nach Halloween selber mal nen Artikel drüber.

      6. @ Robin „Studierte Pädagogen dagegen waren furchtbar. Komischerweise die ehemaligen Schullehrer genauso – da sollte man doch meinen, die wüssten, von was sie reden.“

        Pädagogik als Uni-Fach hat eine Eigenschaft, die eigentlich ein Vorteil sein könnte, sich aber meist als Nachteil ausprägt: Das Fach ist ungeheuer offen zu allen möglichen Seiten (Politik, Psychologie, Soziologie, Geschichte, Mathematik/Statistik, Informatik, Philosophie, Germanistik, Biologie, Neurobiologie, etc.). Das könnte eigentlich, im Sinne interdisziplinären Arbeitens, eine Chance sein, wenn man nicht alles auf einmal macht, sondern sich auf bestimmte Bereiche konzentriert. Es kann aber eben auch dazu führen, dass aus allen möglichen Fächern Forschung und Lehre in einer Light-Version angeboten wird. Die albernsten Veranstaltungen, die ich erlebt habe, waren Pädagogik-Veranstaltungen – ich hab aber auch von einigen sehr profitiert, bis heute (in theoretischer Hinsicht wie in praktischer).

        Ehemalige Lehrer sind auch im Referendariat ein echtes Problem – weil sich dort relativ viele Schulflüchtlinge sammeln. Das heißt, es sind Kollegen, die auf den Unterricht in der Schule keine Lust mehr haben oder die ihn nicht mehr schaffen und die dann versuchen, in der Lehrerausbildung unterzukommen. Eigentlich sollten Leute an der Uni unterrichten, die auch aktuell in der Schule tätig sind und bleiben.

  6. Danke für Deine Arbeit.

    Ich habe mich an der Diskussion auf dem Blog von Alexander von Beyme auc eine Weile beteiligt.
    Ganz teile ich nicht alle Deine beobachtungen, und im Grund kann ich mehr von Alexanders und v.a. Mels betrachtungen abgewinnen, als in meinen dortigen Kommentaren durchklingt.

    Ich denke, auch, dass wir in einiges, was als Übungen angeboten wird, zu viel hineininterpretieren, namentlich in die Streichelübung oder die hier von dir genannte Fütterübung.

    Aber einige genannte Problembereiche bleiben einfach unübersehbar:
    Selbst wenn ich anerkenne, dass z.B. Mel hier immer alles vorbildlich betreibt:

    – Das Missbrauchspotential solcher übungen ist beträchtlich.
    – die Frage, warum das im Rahmen der Schule gemacht werden sollte, bleib auch nach mehrfacher Nachfrage unbeantwortet und ungeklärt (es sei denn, eine solche Antwort kam noch, nachdem ich ausgestiegen bin)

    Die verunklarung und verundeutlichung hast du schön beschrieben: Mehrfach werden die Teilnehmer offenbar zu Aufgaben aufgefordert, die sie nur „falsch“ lösen können, um sie danach zu „dekonstruieren“. Damit bestätigen sich die lieben psedotherapeutischen Lehrmeister immer schön selbst, was für angebliche „antiquirte Vorstellungen“ „noch immer“ in den Köpfen herumspuken.

    Dass in solchen Situationen Menschen algemein, Schüler vermutlich ganz besonders sehr gut darin sind, das abzuliefern, was grade von ihnen erwartet wird, scheinen sie nicht zu berücksichtigen.
    Sie schaffen sich damit die Bestätigung der Notwendigkeit ihrer Tätigkeit.

    Diese Verunklarung und verunsicherung hat methode, wird aber nur dort angewandt, wo sie den Leitern ins Konzept passt.
    Völlig unhinterfragt bleibt die Zuordnung bei der „Blume der Macht“. Danke ganz ganz besonders für die Beschreibung diese Übung. Ich finde sie eine der indoktrinierendsten, die ich bisher gelesen habe:
    Da gibt es zwei konzentrische Kreise von Eigenschaften. Innen sind offenkundig die, die als die „privilegierten“ Eigenschaften zu sehen sind, die, die an den Fleischtöpfen der Macht hocken, außen die nicht-privilegierten, die entsprechend diskriminiert werden.
    Die Schülr werden weiter aufgefordert, solche schwarz-weiß Zuordnungen zu produzieren.
    Diese werden nicht hinterfragt.

    Hinterfragt wird immer alles mögliche. Aber genau dieses simple schwarz-weiß muster eben nicht.
    es wird stillschweigend repoduziert.

    „eigene Position in gesellschaftlich bedingten Machtverhältnissen soll bewusst gemacht und reflektiert werden“.
    Sie sollen eben nur „bewusst gemacht“ werden, aber sie werden nicht hinterfragt, ob die Kategorien überhaupt stimmen.
    Weiter wird alles, was an Kategorien genannt wird, in dieses Machtschema gepresst, als gäbe es nichts anderes. Die Teilnehmer sollen lernen, schwarz-weiß zu denken. Das soll im Namen der „vielfalt“ sein?

    Die Eigenschaften werden hier ja grade NICHT gleichberechtigt dargestellt.
    Sie werden nicht nebeneinander gestellt, sondern in Hierarchien eingeordnet. Es werden grade keine Brücken gebaut, sondern Unterschiede betont, Abgrenzungen betont. Das beseitigt Ressentiments eben grade nicht, sondern betont sie. Nämlich umgekehrt zu dem, was sie als gegeben Hierarchie behaupten.
    Die oben in der Hierarchie, also die WHM, sind die bösen. Weil die mächtigen. Die dunkle Seite der Macht.
    Das einzig angemessene ist, sich dafür gründlich zu schämen. Und das lernen sie in dieser Übung wieder mal.

    1. Man kann solche Dokumente nach dem String „hinterfrag“ durchsuchen und schauen, in welchem Kontext dieses Wort ünerhaupt gebraucht wird. – Hinterfragt wird wohl nie die eigene Position, sondern immer nur die des Gegners. Eigentlich bedeutet „hinterfragen“ hier das gleiche wie „ablehnen“, man will es nur nicht so direkt sagen. „Hinterfragen“ klingt ja so schön neutral.

      1. Ich fürchte, das hängt von dem WordPress-Thema ab. Man kann natürlich auch physische Textauszeichnung nehmen, aber ich finde es besser, da einheitlich zu bleiben.

    1. OT:

      Lieber Stephan,

      warum kommentierst Du eigentlich nicht mehr beim Christian mit?

      Du bist mir als derjenige in Erinnerung, mit dem zu diskutieren ausschließlich erfreulich war – trotz mitunter recht unterschiedlicher Ansichten.

      Ohne pathetisch klingen zu wollen: ich vermisse Dich.

    2. Ich habe einen Hinweis eingefügt, dass es ein Entwurf war. Ich würde den Text ungern wieder löschen wollen. (Ich hatte auch überlesen, dass es noch ein Entwurf war. Ich muss auch leider eingestehen, dass ich kein besonders guter Textbeurteiler bin.)

      1. @Stephan: Ist das nicht etwas, was ihr per Mail klären solltet? Generell sehe ich es wie Graublau: Nicht löschen – denn der Beitrag ist gut.

      2. „Mit anderen Worten: Die endgültige Fassung kann ich mir sparen?“

        Nein, im Gegenteil, verbessere an dem Artikel, was Du für richtig hältst. Du hast außerdem hier einige Kommentare gelesen, nutze das ebenfalls. Es spricht überhaupt nichts dagegen, später eine neuere Version zu veröffentlichen.

  7. Beim Lesen der Methoden hatte ich vor allem ein Bild im Kopf. Eine Gruppe bunt gekleideter Menschen in einem New-Age-Selbsterfahrungsworkshop, die sich gegenseitig bei jeder Äußerung Fragen: »Wie geht es dir dabei?«

    Einige Kommentatoren haben natürlich Recht wenn sie anmerken, dass die Übungen in einer Light-Version nicht so übergriffig sind. Aber selbst dann bleibt die Frage offen ob alle leitenden Pädagogen eine angemessene Version verwenden würden oder ob hier mittelfristig und regelmäßig die Grenze angetastet und überschritten wird. Letztendlich unterliegen alle Übungen einer ideologischen Stoßrichtung. Wer kann garantieren, dass Verfechter dieser Ideologie nicht versuchen das Maximum herauszuquetschen? Ich sehe schon die Gerichtsverfahren bei denen sich auf den Lehrplan berufen wird…

  8. Für mich ist ziemlich klar, dass der Effekt dieser Pädagogik genau das Gegenteil sein wird (Adrian hat das ja angedeutet): sie wird die Homophobie verstärken.

    Als ich das erste mal davon hörte (so mit vielleicht 10-12 Jahren), dass es Männer gibt, die das, was man mit Frauen macht, mit anderen Männern machen, war ich völlig platt: Pfui Teufel, das ist ja widerlich! In diesem Alter nimmt man das andere Geschlecht durchaus schon als solches wahr, und ein rudimentäres Interesse an Mädchen hatte ich damals auch schon.

    Genauso werden die Schüler auch reagieren, und wenn sie dann später mal Homosexuelle kennen lernen, sind sie schon negativ vorgeprägt.

      1. Ja ich bin vielleicht etwas älter als du und heute wissen die Kinder schon früher bescheid.

        Ich sehe allerdeings keinen Hinweis, dass es heute mehr als die 5% Homosexuellen gibt, die es schon immer gab und geben wird.

        Das Problem bleibt also.

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