Linke Identitätspolitik: soziale Klassen und Verteilungsgerechtigkeit kein Thema mehr für die liberalen Linken?!

Die Schweizerische Wochenzeitung (WoZ)  interviewt in ihrer neusten Ausgabe Silja Häusermann (Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich) im Zusammenhang von Abstiegsängsten sogenannter Modernisierungsverlierer. Dabei wird deutlich, dass bei der liberalen Linke Identitätspolitik Vorrang vor allem anderen hat.

Wer ist eigentlich die Elite, gegen den sich der Rechtspopulismus wendet?

Silja Häusermann fragt sich im Interview, wen denn die Rechtspopulisten eigentlich mit der Elite meinen. Der erst kürzlich verstorbenen Soziologe Hans-Jürgen Krysmanski unterscheidet ja folgende Eliten:

−      Geldelite
−      Finanzelite
−      Politische Elite und
−      Funktions- & Wissenselite.

Silja Häusermann würde als Professorin an einer Universität zur Funktions- & Wissenselite gehören. Nach dem Soziologen Pierre Bourdieu würde sie zu den „Herrschenden in beherrschter Stellung“ gehören. Herrschende deshalb, weil bei Bourdieu das kulturelle Kapital, von dem Frau Häusermann eine ganze Menge besitzt, auch ein Faktor für die Bestimmung einer sozialen Klasse ist. In beherrschter Stellung ist sie deshalb, weil bei Bourdieu das ökonomische Kapital quasi das alles dominierende Kapital ist.

Die SVP-WählerInnen oder die RechtspopulistInnen haben somit eine große Auswahl von Eliten zur Verfügung, die sie nicht so gut mögen; Frau Häusermann könnte ev. auch darunter fallen.

Nicht die Armen und die Prekarisierten wählen die Rechtspopulisten, sondern der untere Mittelstand

Silja Häusermann ist der Auffassung, dass nicht die Armen und die Prekarisierten die Rechtspopulisten wählen, sondern der untere Mittelstand. Wenn wir die Wahl 2015 in der Schweiz anschaue, dann hat

die Einkommensklasse von

– Fr. 0-4000 zu 32% die Rechtspopulisten gewählt; bei der SP sind es nur 22%.
– Fr. 4001-6000 zu 36% die Rechtspopulisten gewählt; bei der SP sind es nur 17%.

Die Aussage von Silja Häusermann dürfte somit falsch sein: Gerade die Armen und Prekarisierten sowie der untere Mittelstand haben überdurchschnittlich die SVP bzw. die Rechtspopulisten gewählt.

Noch krasser sieht es beim kulturellen Kapital aus:

Personen ohne Berufsausbildung haben zu

33% die Rechtspopulisten gewählt, aber nur 14% die SP.

Das heißt, diejenigen Populationen, die am wenigsten ökonomisches und kulturelles Kapital besitzen, wählen eindeutig am häufigsten und zwar überdurchschnittlich häufig die Rechtspopulisten! Die Rechtspopulisten ziehen also nicht nur überdurchschnittlich Leute an, die an einer relativen bzw. subjektiven Deprivation leiden, wie uns dies Silja Häusermann offenbar weismachen möchte, sondern bei denen auch tatsächlich eine objektive Deprivation vorhanden ist.

Hilft vermehrte Sozialpolitik gegen Rechtspopulismus?

Silja Häusermann ist außerdem der Auffassung, dass ein bisschen mehr Geld vom Sozialamt der Rechtspopulismus durch eine linke Partei nicht aufgehalten werden kann.

Es ist sicherlich richtig, dass mit ein wenig mehr Geld vom Sozialamt der Rechtspopulismus nicht aufgehalten werden kann. Die Ursache des Problems des Rechtspopulismus ist m.E. jedoch auch nicht einfach nur ein ökonomisches, das dann in ein kulturelles bzw. identitäres Problem transformiert wird, wie Silja Häusermann behauptet, sondern hat mindestens drei Ursachen:

  1. ökonomisch: Verteilungskrise
  2. kulturell: Identitäts- und Sinnkrise
  3. politisch: Repräsentationskrise und fehlende politische Partizipation

(vgl. Decker, Franz 2006, S. 22)

Und das Problem dieser „Modernisierungsverlierer“ ist somit auch nicht einfach und in erster Linie ein Identitäres, wie dies Silja Häusermann behauptet, sondern durch ökonomische, kulturelle und politische Krisen verursachte objektive und subjektive Deprivation, die durch den Rechtspopulismus mit identitätspolitischen Angeboten (Abgrenzung und Ausgrenzung von anderen Menschen sowie Nationalismus etc.) „bewirtschaftet“ wird.

Da die Problematik mehrdimensional ist, reicht ein starker Sozialstaat in der Regel nicht aus. Es braucht dementsprechend Maßnahmen, die u.a. die politische, die kulturelle und die ökonomische Krise und die daraus resultierenden Deprivationen in den Fokus rückt.

Die Wählerschaft der Linken hat sich in den letzten Jahrzehnten komplett verändert.

Die folgende Aussage von Silja Häusermann finde ich dann schon sehr bemerkenswert:

„Anfang der achtziger Jahre gehörten in Europa zwei Drittel der linken Wähler zur Arbeiterschaft, ein Drittel war Mittelklasse. Heute ist es umgekehrt. Aber nur dank der kulturellen Öffnung konnte die Linke überhaupt ihren Wähleranteil halten, auch in der Schweiz. Die Wählerschaft hat sich komplett verändert. Aber das ist keine schlechte Nachricht.“

Ich habe gedacht, bei den Linken geht es neben der Bekämpfung von Sexismus und Rassismus etc. auch um Einkommens- und Vermögensverteilung, politische Partizipation, Bildungsmobilität, Klassenmobilität, Lebenserwartung, Krankheit, Gesundheit, Armut etc.?!

Silja Häusermann sagt weiter:

„Ich kenne keine Evidenz dafür, dass sie diese Wähler mit sozialpolitischen Themen zurückgewinnen könnte. Das hat nirgendwo funktioniert.“

Was ist denn eigentlich mit Syriza oder mit Podemos? In Deutschland dürfte die AfD um einiges stärker sein, wenn es DIE LINKE nicht geben würde. Warum gibt es eigentlich in Portugal, Spanien oder Irland keinen Rechtspopulismus mit nennenswertem Erfolg? Aber wie bereits weiter oben gesagt, sozialpolitische Maßnahmen alleine dürften vielfach nicht ausreichen.

Das Problem des Rechtspopulismus ist kein ökonomisches, sondern ein kulturelles bzw. Identitäres

Silja Häusermann sagt weiter:

„Sie muss weiter für einen starken Sozialstaat einstehen. Aber sie muss sich darüber im Klaren sein, dass sie damit keine Stimmen zurückholt. Das gibt keinen Wählerzuwachs. Denn das Problem ist: Die Ablehnung der rechtsnationalen Wähler richtet sich nicht in erster Linie gegen das ökonomische Kapital, sondern gegen den kulturellen Wandel. Die Linke müsste also ihre universalistische Politik ablegen. Und was will sie dann anbieten? National gefärbten Klassenkampf?“

Nun, ein starker Sozialstaat reicht alleine vielleicht nicht aus, aber wenn noch zusätzliche Elemente dazu kommen würden, dann könnte man vermutlich dem Rechtspopulismus schon vermehrt das Wasser abgraben. Z.B. vermehrte Bildungsmobilität, Klassenmobilität, Wirtschaftsdemokratie, eine Verminderung der habituellen Entfremdung zwischen Sozialdemokratie, Bildungselite, Wissenselite und den „kleinen Leuten“ und nicht eine andauernde Delegitimierung von Sorgen, Emotionen und Wahrnehmungen dieser Menschen (da könnte ich der Silja Häusermann das Buch von Pierre Bourdieu „Die Feinen Unterschiede“ empfehlen, in dem es gerade um Distinktionsstrategien unterschiedlicher sozialer Klassen geht). Also z.B. eine Politik der Anerkennung nach Axel Honneth für diese „kleinen Leute“. Und wenn man die „kleinen Leute“ nicht mehr in den Blick bekommt, dann ist dies sicherlich keine universalistische Politik mehr, sondern eine reine partikulare Identitätspolitik, die eben partikularistisch vorgeht und den Universalismus abgelegt hat.

Ich verweise mal auf einen Vortrag von Eric Hobsbawm  (Identitätspolitik und die Linke):

Will die Linke wieder zurück zum Nationalstaat?

Silja Häusermann sagt weiter:

„Ja, fürchterlich. In gewissen Ländern in Europa könnte das eine linke Minderheitsposition werden. Bloss: Das ist sicher keine taugliche Politik für eine Sozialdemokratie. Wenn sie beginnt, ihre kulturelle Basis infrage zu stellen, die Stellung der Frau, die internationale Solidarität, die Rechte von Migranten, dann verliert sie jene Wähler, die sie in den letzten dreissig Jahren gewinnen konnte und die heute die Mehrheit ihrer Basis ausmachen: die kosmopolitische, urbane und gebildete Mittelschicht. Menschen, die in den wachsenden Branchen arbeiten.“

Weshalb fragt Silja Häusermann nicht danach, weshalb es einen Brexit gab, und weshalb gewisse Linke ihr Heil wieder in der Nation suchen?

Ich verweise diesbezüglich mal auf Heiner Flassbeck und auf Mario Candeias:

Heiner Flassbeck

Mario Candeias

Verkürzt würde dies heißen: Wenn die Sozialdemokratie weiterhin eine autoritäre Austeritätspolitik fährt und Deutschland weiterhin Lohndumping im eigenen Land betreibt und die eigene Arbeitslosigkeit exportiert, was in einer Währungsunion nicht gut gehen kann, dann werden ev. noch ganz andere Leute an die Macht kommen als Trump et al.

Die kosmopolitische, urbane und gebildete Mittelschicht könnte eben gerade mitverantwortlich sein für einen autoritären Neoliberalismus, der dann ev. zu Nationalismus und antidemokratischem Autoritarismus führt.

Haben wir einen neuen Kulturkampf: Linke Liberale und rechte Nationalisten?

Silja Häusermann sagt weiter:

„Ja, weil es sowohl den heutigen linken Wählern wie auch den ehemaligen Anhängern, die heute rechtsnational wählen, primär um identitäre, um kulturelle Fragen geht. Egal was die Linke macht, sie verliert am einen oder anderen Ende. Es findet ein neuer Kulturkampf statt.“

Das ist richtig: der heutigen Linke geht es primär einmal um Identitätspolitik und kulturelle Fragen und primär nicht mehr um soziale Gerechtigkeit bzw. Verteilungsfragen etc. Ich zitiere Wolfgang Merkel in diesem Zusammenhang:

„Die junge, intellektuelle Linke hat den Bezug zu der Unterklasse im eigenen Land fast gänzlich verloren. Da gibt es vonseiten der Gebildeten weder eine Sensibilität noch eine Aufmerksamkeit und schon gar keine Verbindungen mehr. Die Linke hat sich eben kosmopolitisiert und, wie gesagt, ihren politischen Schwerpunkt auf eine kulturelle Ebene verlagert, und eben auf dieser Ebene unterscheiden sich die Milieus der hoch und weniger Gebildeten deutlich voneinander. Dieser Verlust der Kommunikation zwischen den Klassen, wenn ich diesen Begriff einmal verwenden darf, ist massiv und ein Problem für die soziale Gerechtigkeit.“

Ist linke Identitätspolitik universalistisch oder doch eine neue Klassengesellschaft?

Silja Häusermann sagt weiter:

„Ja, nur dass sich heute nicht mehr Reformierte und Katholische gegenüberstehen wie im 19. Jahrhundert, sondern Linksliberale und Rechtsnationale. Wenn Sie die Reaktionen auf Trump verfolgen: Die grosse Besorgnis ist die um eine liberale Gesellschaftsordnung und um Minderheitenrechte, also um universalistische Rechte.“

Wenn man die soziale Verteilungsfrage und viele andere Fragen, die eben nicht primär Identitätspolitik oder kulturelle Fragen sind, aus den Augen verloren hat, wie kann man dann behaupten, dass man quasi universalistisch denkt?

Silja Häusermann sagt weiter:

„Vieles, was wir heute als selbstverständlich erachten, sind erkämpfte Erfolge einer kulturell liberalen Identitätspolitik. Die gute Nachricht für die Linke ist: Sie kann Einfluss nehmen mit den Stimmen, die sie in den letzten Jahrzehnten dazugewonnen hat. Aber es gibt einen Backlash. Es mag unbefriedigend sein, aber die Diagnose bleibt: Die Linke steckt in einem Dilemma.“

Es würde sich dann mal die Frage stellen, ob die erkämpften Erfolge rein auf eine kulturell liberale Identitätspolitik zurückzuführen sind?  Hier wird m.E. u.a. die ökonomische Dimension vollständig außen vor gelassen, die gerade für die Gleichstellung der Geschlechter auch ziemlich wesentlich war. Nur fragt sich eben, ob eine linke Identitätspolitik wirklich universalistisch ist und nicht eben nur partikularistisch, wenn die Gesellschaft wieder vermehrt zu einer Klassengesellschaft wird. Dazu abschliessend Wolfgang Merkel:

„Im Schatten der wachsenden kulturellen Sensibilität der Linken ist also eine neue Klassengesellschaft entstanden. Und diese Klassengesellschaft ist bislang zumindest nicht Thema des jungen intellektuellen Diskurses.“

Fundstück: Die junge Linke

Es gibt sie doch noch, die Momente der Wahrheit in den viel geschmähten Massenmedien. Vor ein paar Monaten wurde ich via soziale Medien auf ein Interview mit Wolfgang Merkel aufmerksam, das Robert Pausch für die „Zeit“ geführt hatte.

Sowohl das verwendete Foto als auch die Kernaussage trafen aus meiner Sicht ins Schwarze: „Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren“.

Auf dem Bild zum Artikel sieht man zwei junge Frauen vor den Lichtern einer Großstadt. Sie sehen beide nach Bildung aus, Universität, irgendwie engagiert. Sie sehen weder nach Kampfgeist und Revolution, noch nach Weltschmerz oder Konsumverzicht aus. Ich füge noch hinzu, aber das ist schon deutlich mehr meine persönliche Spekulation, sie wirken auch darauf bedacht, gepflegt zu sein, gleichzeitig modisch als auch alternativ herüberzukommen, hübsch zu sein und ernstgenommen zu werden.

Das ist die politisch entkernte Linke, wie ich sie schon seit meiner Jugend kenne, nur mit massenkompatiblerem Modegeschmack. Die große Wahrheit, die ich in dem Bild sehe: Männer spielen keine Rolle.

Einige Höhepunkte aus den Antworten:

Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lässt, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitätspolitische Themen, über die sich junges Linkssein heute definiert.

So kurz und knapp kann man es zusammenfassen!

Die Globalisierung hat Gewinner und Verlierer geschaffen und die Linke in ganz Europa vermag es kaum mehr, die Globalisierungsverlierer an sich zu binden. Diese Leute – prekär Beschäftigte, Arbeitslose oder kleine Angestellte – wählen nun in großer Zahl rechtspopulistisch.

Zwei Sätze, die man als Wahlanalyse in vielen westlichen Ländern gebrauchen kann.

Kurz davor wurde auf Tabus in der Debatte eingegangen. Und am Ende wird die Kluft zwischen Mittel- und Unterschicht kritisiert und dass diese Spaltung der Gesellschaft für die heutige Linke kein Thema mehr ist.

Ich finde das auf zweierlei Weise erfrischend: Erstens, wie hier einige zentrale soziale Probleme, für die sich die Linke eigentlich brennend interessieren müsste, in klarer Sprache ausgedrückt werden. Zweitens, dass die Kritik an der Linken nicht aus einer antilinken Perspektive erfolgt, sondern aus ihrem eigenen ursprünglichen Anspruch und Selbstverständnis. Eine solche Kritik „innerhalb des eigenen gedanklichen Systems“ fand ich schon immer viel spannender als die der ideologischen Gegner – egal, wo man selbst inhaltlich steht.

Popkultur

Was wäre ein Blogeintrag ohne Popkultur? Das Foto erinnerte mich ebenfalls an das Cover des Albums „marillion.com“.

Marillion: House