»Der Kaiser ist nackt!« Ulrich Kutscheras Angriff auf die Gender Studies.

Ulrich Kutschera (*1955) ist seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Pflanzenphysiologie und Evolutionsbiologie an der Universität Kassel und seit 2007 Visiting Scientist an der Stanford University in Kalifornien. Und ist – spätestens seit einem Radiointerview bei Rundfunk Berlin-Brandenburg im Juli 2015 – der leibhaftige Gottseibeiuns des Feminismus und der akademischen Gender Studies. Dies so sehr, dass ihn die Universität Marburg aktuell nicht einmal als Vortragenden zu seinem eigenen Fachgebiet im Studium Generale erträgt. Eine seiner provozierendsten Thesen lautet, dass sich die Fachrichtung der Gender Studies mit der christlich-fundamentalistischen Ideologie des Kreationismus analogisieren lasse, da sie sich in vergleichbarer Weise der Zurkenntnisnahme grundlegender Erkenntnisse der Evolutionsbiologie verweigere. Seine Kritik der Gender Studies hat Kutschera im Februar dieses Jahres unter dem Titel »Das Gender-Paradoxon. Mann und Frau als evolvierte Menschentypen« in Gestalt eines Buch von gut vierhundert Seiten Umfang veröffentlicht, mit dem ich mich im Folgenden auseinandersetzen möchte.

Kutscheras Buch ist eine themenspezifische Zusammenstellung von Befunden der Biologie, die man allesamt auch gängigen Lehrbüchern entnehmen könnte (von denen er selbst eines verfasst hat), die hier aber mit dem ausdrücklichen Ziel präsentiert werden, mit aus der Sicht der Biologie unhaltbaren Behauptungen der Gender-Forschung konfrontiert zu werden. Aufgrund dieser Zielsetzung bietet das Buch keinen systematischen, sondern einen anlassgetriebenen Text. Wollte man ihm einen barocken Untertitel verleihen, so könnte dieser lauten: »Ein Florileg aus Befunden der Evolutionsbiologie, ausgewählt nach Kriterien des Zusammenstoßes mit unvereinbaren Standpunkten der Gender Studies und feministischen Politik, sowie am Leitfaden exemplarischer Konflikte aus Gegenwart und Vergangenheit dargestellt.« Diese Konflikte sind zum Teil Kutscheras eigene Zusammenstöße mit einem debattierenden oder Debatte vortäuschenden Publikum, zum Teil der Presse und Literatur entnommene Beispiele. Aus der Art der Präsentation dieser Konflikte wird sowohl die provozierende Wirkung als auch die potentielle Sprengkraft des Textes ersichtlich.

Kutscheras Argumentation beabsichtigt im Wesentlichen die Begründung folgender Thesen:

(1) Die Gender Studies beruhen in entscheidenden Hinsichten nicht auf seriöser wissenschaftlicher Methodik, sondern auf ideologischen Glaubenssätzen.

(2) Ein wesentlicher Teil dieser Glaubenssätze geht auf die Schriften des amerikanischen Psychologen John Money zurück, die vom Feminismus rezipiert wurden, obwohl ihre wissenschaftliche Unhaltbarkeit bereits in den 60er Jahren nachgewiesen wurde.

(3) Die Gender Studies können aufgrund ihrer Verweigerung der Kenntnisnahme biowissenschaftlicher Erkenntnisse legitimerweise dem religiösen Kreationismus analogisiert werden.

(4) Der Grad der Realitätsverweigerung von Vertreterinnen und Vertretern der Gender Studies trägt analog zum Kreationismus sektenhafte Züge und führt zu im Namen des Feminismus ausgeübten politischen Repressionsversuchen gegen Kritiker.

(1) Für Kutscheras Argumentation grundlegend ist dabei eine Kritik der von den Gender Studies verwendeten Semantik. Während wir den Gebrauch des Begriffspaars »Sex« und »Gender« vornehmlich aus den Kulturwissenschaften kennen (üblicherweise als Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht), weist er darauf hin, dass es eine davon unabhängige biologische Bedeutung der Begriffe gibt. »Sex« im biologischen Sinne ist an die Funktion der Fortpflanzung gebunden und bezeichnet die Verschmelzung zweier haploider Gameten (Keimzellen) zu einer diploiden Zygote. Im Falle des Menschen handelt es sich um die Verschmelzung eines Spermiums mit einer Eizelle. Die Funktion der Sexualität besteht darin, durch Rekombination von Chromosomensätzen genetische Variation zu erzeugen. Dieser biologische Mechanismus existiert seit dem Präkambrium, also seit dem Erdzeitalter, in das auch die Entstehung des Lebens selbst fällt. »Die sexuelle Reproduktion ist somit eine frühe ›Erfindung‹ in der Stammesgeschichte der Organismen«. (Kutschera 2015, S. 231) »Gender« im biologischen Sinne bezeichnet dagegen die »Ausbildung von Männchen und Weibchen, d.h. anatomisch/funktionell verschiedene(n) Geschlechtstiere(n) bzw. Pflanzen«, also den Sexualdimorphismus. (Kutscher 2016, S. 33) Die kulturwissenschaftliche Begriffsverwendung bezeichnet demgegenüber mit »Sex« das »biologische Geschlecht«, also den Sexualdimorphismus, und mit »Gender« eine angeblich sozial konstruierte Geschlechtsidentität.

Hier setzt nun ein erster Widerspruch Kutscheras ein. Geschlechtsidentität ist aus biologischer Sicht niemals »konstruiert«. »Umfassende Studien belegen … jenseits aller Zweifel, dass das ›Junge- oder Mädchen-Sein‹, verhaltensbiologisch betrachtet, bereits im letzten Drittel der Schwangerschaft einsetzt.« (Kutschera 2016, S. 245) Da die embryonale Geschlechtsdifferenzierung über die Menge des ausgeschütteten Testosterons reguliert wird, verhalten sich »männliche Embryonen ab dem 6. Schwangerschaftsmonat im Mutterleib ca. 10% aktiver als weibliche Kontroll-Individuen. (…) Diese ›Hyperaktivität‹ (m) ist statistisch hoch signifikant und daher ein biologisches Faktum.« (Kutschera 2016: 245) Das betrifft auch das nachgeburtliche Verhalten: Jungen reagieren aufmerksamer auf bewegte Gegenstände, Mädchen auf Gesichter, Jungen bevorzugen harte Gegenstände wie z. B. Autos als Spielzeuge, Mädchen weiche Gegenstände wie z. B. Puppen. Ähnliches gilt auch für die erotischen (»heteronormalen« vs. »homoerotischen«) Präferenzen: Kutschera zufolge sind diese angeboren, wobei 95% der männlichen und weiblichen Bevölkerung »heteronormal« sind, vier Prozent homoerotisch und ein Prozent trans- oder intersexuell. Kutschera widerspricht damit ausdrücklich der in Degeles Einführungsband in die Gender Studies geäußerten Behauptung: »Biologische Befunde legen keineswegs die Annahme von Geschlecht als Polarität, sondern als Kontinuum nahe.« (Degele 2008, S. 62) Damit widerspricht er zugleich der Vorstellung, Homosexualität sei etwas, das »gewählt« (feministische Variante) oder »aberzogen« (christlich-fundamentalistische Variante) werden könnte.

Allerdings gilt die »strikte« biologische Festlegung auf Hetero- oder Homosexualität nur für Männer: Frauen sind in dieser Hinsicht biologisch von Männern unterschieden: »Im Gegensatz zu homoerotisch veranlagten Männern ist die lesbische Zuneigung wesentlich flexibler und auch von Umweltfaktoren gesteuert. Heteronormale Frauen können somit, bei anhaltend negativen Erfahrungen mit Männern sowie unter dem Einfluss politischer Lesben-Propaganda, relativ leicht ›umgepolt‹ werden, entweder vollständig oder nur teilweise.« (Kutschera 2016, S. 259) Der Unterschied ist erneut auf die Fortpflanzung bezogen: während homosexuelle Männer sich nicht fortpflanzen, schließt die lesbische Veranlagung Fertilität und Fortpflanzungswunsch nicht aus, was evolutionär darauf zurückzuführen sei, dass sich Paare von Frauen auch beim Wegfall von Männern erfolgreich als alliierte Mutter-Kind-Dyaden unterstützen können.

Kutschera insistiert auch darauf, »dass das Phänomen der homoerotischen Neigung in Menschen-Populationen als normale Komponente innerhalb einer naturgegebenen Variabilität des ›Sexualtriebs‹ zu interpretieren ist. Diskriminierungen von LGBTQIA-Personen … sind in keiner Weise durch Sachargumente zu rechtfertigen und nur in einem religiös-politischen Umfeld verständlich«. (Kutschera 2016, S. 260 f.) Homosexualität (bei Kutschera als »Homoerotik« vom Sex-Begriff differenziert) ist also eine »normale Abweichung« von der »Heteronormalität«. Hieraus ergibt sich folgerichtig auch, dass der Verfasser Begriffe wie »Heteronormativität« oder »Zwangsheterosexualität« als pseudowissenschaftliche und ideologiegetriebene Begriffsbildung zurückweist.

Sexuelle Uneindeutigkeiten gibt es nur bei dem einen Prozent der biologisch unter die Kategorie »Disorders in Sexual Development« (DSD) fallenden Individuen. Medizinisch gesehen sind dies beispielsweise Menschen, die das Klinefeltersche oder Turnersche Syndrom aufweisen, also in der Pubertät entwickelte Individuen mit männlichen Geschlechtsorganen und weiblichen Brüsten, die zeugungsunfähig sind, sowie kleinwüchsige, weiblich aussehende Individuen, die ebenfalls unfruchtbar sind. »Über die Frage, ob man Personen, die man in die Kategorie ›DSD‹ stellt, als ›gesund‹ oder ›krank‹ deklarieren sollte, wird noch kontrovers diskutiert. Auch der biomedizinische Begriff ›Disorder‹ ist fragwürdig, da er eine Wertung beinhaltet. Es ist angemessen, völlig wertneutral von ›intersexuellen Menschen‹ zu sprechen und andere Begrifflichkeiten zu vermeiden. Die populäre Bezeichnung ›Hermaphroditen‹ bzw. ›Zwitter‹ ist, biologisch betrachtet, nicht korrekt: Echte Zwitter … besitzen jeweils ein funktionstüchtiges Paar Hoden und Ovarien. (…) Ein Durchschnittswert von ca. 1% Intersex-Menschen, bezogen auf die bisher untersuchten ethnischen Gruppen der Erde, wird von den meisten Forschern als realistische Abschätzung angesehen«. (Kutschera 2016, S. 219 f.)

Der Begriff des »Hermaphroditismus« zählt für Kutschera zu den in mehrfacher Hinsicht ideologisch missbrauchten biologischen Begriffen. Erstens ist der Begriff mit einer feministischen Fehlinterpretation von Charles Darwin verbunden. Eine feministische Autorin, Sarah Richardson, will bei Darwins die Aussage gefunden haben, dass sich seiner Ansicht nach alle Lebewesen »aus einer einzelligen hermaphroditischen Form« (Kutschera 2016, S. 38) entwickelt hätten. Kutschera zufolge hatte Darwin tatsächlich die (aus heutiger Sicht unzutreffende) Überlegung geäußert, »dass der Vorläufer aller Wirbeltiere (Vertebraten) eine Zwitterform (Hermaphrodit) gewesen sein könnte. Die Geisteswissenschaftlerin Hamlin (2014) sowie ihre Rezensentin (Richardson 2014) haben offensichtlich die Begriffe ›universelle Urform aller Lebewesen‹ mit dem ›entfernten Vorläufer der Wirbeltiere‹ verwechselt«. (Kutschera 2016, S. 39)

Zweitens wird die Vorstellung eines ursprünglichen biologischen Hermaphroditismus von der schwedischen Gender-Forscherin Marlin Ah-King vertreten, die im Auftrag des schwedischen Sekretariats für Genderforschung beauftragt worden war, ein Buch über »Genderperspektiven in der Biologie« zu verfassen. Im Rahmen dieser Tätigkeit weilte sie im Wintersemester 2013/14 als Gastdozentin an der Universität Marburg und veröffentlichte dort eine Broschüre gleichen Namens, die auf dem Titel eine zu den in reproduktionsbiologischer Hinsicht hermaphroditischen Lebewesen zählende Meeresqualle abbildet. Damit ist die Intention der Broschüre bereits angedeutet: biologische Konzepte von Geschlechtszugehörigkeit als »gesellschaftlich geprägte Vorstellungen« zu kritisieren. Dem legitimatorischen Rückgriff auf die hermaphroditische Qualle widerspricht Kutschera: »Es gibt keine belastbaren Fakten, die für einen zwittrigen Ursprung sämtlicher animalischer Lebewesen sprechen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Hermaphroditen waren und sind noch heute eher Sackgassen der Evolution, als dass sie innovative Abstammungslinien begründet hätten.« (S. 117) Das hindert die Autorin nicht daran, die Broschüre mit einer Batterie feministischer Vorwürfe an die Biologie zu füllen, die Kutschera zufolge jeder fachlichen Grundlage entbehren.

Drittens ist die Vorstellung des Hermaphroditismus ein Schlüsselkonzept in der Geschlechterpsychologie von John Money, jenes Professors für Pädiatrie und Medizinische Psychiatrie, der für David Reimer zuständig gewesen ist. Bereits in seiner Dissertation von 1952 hatte er sich mit dem Thema des Hermaphroditismus beschäftigt. Kutschera zitiert Moneys erstmals 1955 formulierte und 1963 präzisierte Grundthese wie folgt: »Anstelle einer Theorie der instinktiven, angeborenen Maskulinität bzw. Femininität zeigt uns die Hermaphroditen-Forschung, dass, psychologisch, die Sexualität des Menschen bei Geburt undifferenziert ist und sich unter dem Einfluss verschiedener Erfahrungen während des Aufwachsens in eine männliche oder weibliche Richtung differenziert. (…) Wie Hermaphroditen, folgen alle Menschen sämtlicher Rassen demselben Muster, d.h. einer psychosexuellen Undifferenziertheit bei der Geburt. (…) Neugeborene männliche Babys können, nach Operation und Hormonbehandlung, in heterosexuelle Frauen umgewandelt werden.« (Kutschera 2016, S. 285)

(2) Nicht erst Kutschera hält diese Theorie für Scharlatanerie: »Nur zehn Jahre nach der 1955 erstmals formulierten ›Gender-Theorie‹ … hat der amerikanische Biologe Milton Diamond in einem ausführlichen Artikel, publiziert im renommierten Quarterly Review of Biology, die Money’sche ›Neutralitäts-bei-Geburt-Theorie‹ der menschlichen Entwicklung Punkt für Punkt widerlegt. (…) Menschen und andere Säugetiere kommen, biologisch bedingt, zu über 99% als Junge oder Mädchen zur Welt«. (Kutschera 2016, S. 285 f.) Bereits Money reagierte auf Kritik an seiner Arbeit in derselben Weise, wie Vertreterinnen und Vertreter der Gender Studies dies heute tun: er denunzierte sie als Antifeministen und Rechtsradikale.

Die Kritik von John Moneys Werk nimmt eine Schlüsselstellung in Kutscheras Kritik ein. Gestützt auf eine aktuelle Publikation der Politikwissenschaftlerin Jemima Repo (The Biopolitics of Gender) vertritt Kutschera die Ansicht, dass John Moneys Einfluss auf die feministische Theoriebildung nachhaltig und grundlegend gewesen ist. (Der Rezensent kann nicht umhin, zu konstatieren, dass ihm damit zum ersten Mal ein lesenswertes, auf Michel Foucault beruhendes sozialwissenschaftliches Werk von einem Biologen zur Kenntnis gebracht wurde.) Kutscheras Kritik an John Money ist dabei unweigerlich verbunden mit einer Kritik von Moneys Handhabung des Falls Bruce Reimer, auf die wir nun eingehen müssen. Bruce und Brian Reimer waren 1965 geborene Zwillinge. Aufgrund eines ärztlichen Kunstfehlers bei einer versuchten Entfernung der Vorhaut mit einem elektrischen Gerät wurde der Penis von Bruce nicht wiederherstellbar zerstört. Die Eltern wandten sich an den damals bereits renommierten John Money, der den Eltern anbot, eine auf seine Theorien zum Hermaphroditismus gestützte Geschlechtsumwandlung von Bruce vorzunehmen und über die Zeit seines Aufwachsens zu begleiten. Money bot seine Leistung unentgeltlich an, weil er in dem Fall eine Möglichkeit sah, seine bereits in der Kritik stehende Theorie zu beweisen. Die nicht wohlhabenden Eltern nahmen das Angebot an, was jedoch zu einer Verzerrung der Rückmeldungen über den nun als das Mädchen »Brenda« aufwachsenden Jungen führte, da die Eltern dazu neigten, Moneys vorgefasste Erwartungen zu bestätigen. Dass »Brenda« sich weiterhin als Junge fühlte und sich im sozialen Umfeld auch so verhielt, drang nicht bis zu Money durch.

Das ist aber noch nicht alles. Money war auch ein Anhänger der Vorstellung, dass der Umgang pädophiler Erwachsener mit minderjährigen Jungen und Mädchen straffrei sein solle. Kutschera erwähnt dies nicht um einer bloßen Denunziation willen, sondern weil dies im Fall Reimer eine wichtige Rolle spielt: die Eltern von Brian und »Brenda« gaben ihre Kinder im Zuge der psychologischen Begleitung regelmäßig in die Obhut John Moneys. Der Biograph von Bruce Reimer (Bruce nannte sich ab dem 14. Lebensjahr »David«), John Colapinto, schilderte den Ablauf solcher »Betreuungen«: Da Money an den Reimer-Geschwistern als Zwillingen interessiert war, besuchten ihn jeweils beide in seiner Praxis in Baltimore. Money verhielt sich den Kindern gegenüber – in Abwesenheit der Eltern – jedoch aggressiv und tyrannisch autoritär und verlangte von ihnen im Alter von acht Jahren unter anderem, zur Einübung in ihre jeweilige Geschlechtsrollen Kopulationsübungen auszuführen. »Der zum Mädchen umoperierte Junge war bereits mit 8 Jahren erheblich traumatisiert und hatte panische Angst vor seinem Peiniger.« (Kutschera 2016, S. 293) Nach heutigen Maßstäben handelt es sich hierbei um nichts anders als um sexuellen Kindesmißbrauch – weil der Fall Reimer aber als Schlüsselerzählung der Gendertheorien Karriere gemacht hat, scheint ein großer Teil der feministischen Theorie geneigt, darüber hinwegzusehen.

Solche Fälle von Ignoranz innerhalb des Feminismus erklären, warum Kutschera seine Kritik immer wieder in Form einer robusten Polemik äußert: »Der fanatische Kinderschänder Money gab aber nicht auf – er musste der Psycho-Fachwelt gegenüber beweisen, dass seine Gender-Theorie korrekt ist.« (Kutschera 2016, S. 295) Angesichts der geschilderten Sachverhalte erscheinen solche Formulierungen freilich nicht unangemessen. John Money hat nicht nur das Leben von Bruce/David Reimer, sondern auch das seines Bruders Brian zerstört: die Vorbelastungen durch das von Money verschuldete Martyrium ihres Aufwachsens führte dazu, dass sich Brian im Jahr 2002 und David im Jahr 2004 in einer jeweiligen persönlichen Krise das Leben nahmen. John Money hat an seinen Theorien bis zu seinem Tod im Jahre 2006 festgehalten und jegliche Kritik von sich gewiesen. Wenn wir aber für die Bereitschaft, ohne Rücksicht auf das Leiden seiner Opfer Menschenversuche zur Bestätigung obskurer Theorien durchzuführen, nach einer historische Analogie suchen, dann dürfte sich John Money wohl als der Josef Mengele des Feminismus qualifizieren. Denn wer sich in einem Einzelfall derart pathologisch und rücksichtslos verhält wie Money im Fall Reimer, der ist am Verschulden weiterer Fälle nicht durch innere Schranken, sondern nur durch den Mangel an äußerer Gelegenheit gehindert. Man stelle einen John Money in dieselbe Position mit derselben Machtvollkommenheit wie einen Josef Mengele, und er wird dieselbe Art von Verbrechen begehen.

Eine Feministin, die den Fall Reimer kurz vor seinem Tod noch einmal aufgegriffen hat, ist niemand anderes als Judith Butler in einem Kapitel ihres Buches Undoing Gender (deutsch: Die Macht der Geschlechternormen, Butler 2009), worauf Kutschera im Rahmen seiner Kritik verweist. Butler überschreibt das Kapitel mit »Jemandem gerecht werden. Geschlechtsangleichung und Allegorien der Transsexualität«. Es ist hier nicht der Platz, um Butlers Argumentation im Detail zu erörtern. Es lässt sich aber anmerken, dass sie an entscheidender Stelle die Pointe verfehlt. Obwohl sie Moneys Vorgehensweise durchaus kritisch sieht und für »gewaltsam« hält, argumentiert sie so, als ob Bruce/David niemals ein eindeutig männliches Kind gewesen sei. Die operative Wiederherstellung einer männlichen Anatomie Davids hält sie für eine »künstlich herbeigeführte Natürlichkeit« (Butler 2009, S. 110), sie behauptet: »So, wie sie uns übermittelt wird, beweist die Geschichte keine der beiden Thesen.« (Butler 2009, S. 111), und sie beschreibt die Bemühungen der Kritiker Moneys, Diamond, Sigmundsen und Colapinto als Versuche, »mit Hilfe seiner (Davids) diskursiven Äußerungen die Wahrheit über sein Geschlecht zu ermitteln« (Butler 2009, S. 112) – ganz so, als sei diese Wahrheit nicht bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt bekannt gewesen und durch den ursprünglichen Unfall und die spätere Moneysche »Therapie« bloß verschüttet worden. Was Judith Butler mit ihrer Argumentation in Undoing Gender vollzieht, ist dasselbe wie schon in Gender Trouble: »Undoing Biology«: diskursives Unsichtbarmachen der Biologie auf sprachlich hohem Niveau.

(3) Kutschera sieht in John Moneys Theorien gewissermaßen den Prototyp für die von ihm als »Biophobie« bezeichnete Rezeptionsverweigerung biowissenschaftlicher Erkenntnisse durch den Feminismus im Allgemeinen und die Gender Studies im Besonderen. Diese Verweigerung analogisiert er dem Verhalten von Vertretern des christlich-evangelikalen Kreationismus, über den er bereits ein Buch herausgegeben und mitverfasst hat (vgl. Kutschera 2007). Der Kern der Analogie ist der Glaube an eine voraussetzungslose Schöpfung des Menschen – als physisches Wesen durch Gott, als geschlechtlich definiertes Wesen durch die Einflüsse der menschlichen Kultur – der nur darum möglich ist, weil empirisch wohlbegründete Befunde der Biowissenschaften ignoriert und diffamiert werden. »Das Fundamental-Dogma aller Gender Studies ist die Annahme, das Geschlecht des Menschen sowie andere gesellschaftliche Phänomene würden ›sozial konstruiert‹ werden. Mit diesem durch keinerlei empirische Fakten belegbaren Glauben verfolgen die Sozial-Konstruktivisten ein politisches Ziel. (…) Völlig analog denken und argumentieren die deutschen Kreationisten. Deren Glaubenssatz lautet, der biblische Schöpfergott (bzw. der Intelligent Designer) hätte vor maximal 10.000 Jahren ›Grundtypen des Lebens‹ ins Dasein gerufen. Diese ›göttlich konstruierten Basiswesen‹ … hätten sich dann über fiktive Hochgeschwindigkeits-Mikroevolutionsprozesse zur rezenten Biodiversität weiterentwickelt. Das politische Ziel der Intelligent-Design (ID)-Kreationisten ist es, u.a. über Evangelische Bekenntnisschulen christlich-religiöse Missionierung zu betreiben.« (Kutschera 2016, S. 394 f.)

(4) Wie Kutschera seinen Vorwurf des feministischen Sektierertums rechtfertigt, möchte ich an einer besonders provokant wirkenden Aussage erläutern. Im Rahmen des Human Genome Projects wurden im Jahre 2005 Forschungsergebnisse publiziert, die konstatierten, dass anders als zuvor vermutet die genetischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen wesentlich größer waren als zuvor. »Fachleute schlussfolgerten 2005, dass wir nicht von ›einem menschlichen Genom‹ sprechen können …, sondern dass in der Realität zwei Genome vorliegen: das Männliche und das Weibliche.« (Kutschera 2016, S. 220) Einer dieser Fachleute wies darauf hin, dass bei einer genetischen Abweichung von 1,5 % zwischen dem männlichen und weiblichen Genom der Abstand ebenso groß ist wie der genetische Abstand zwischen homo sapiens und pan troglodytes – dem Gemeinen Schimpansen. Diese Feststellung zog aggressive feministische Reaktionen nach sich. Wenn das Human Genome Project an dieser Stelle korrekt gearbeitet hat, dann handelt es sich bei dem Befund freilich um eine Tatsache und nicht um eine Geschmacksfrage der Politischen Korrektheit. Problematisch ist dieser Befund nur dann, wenn man ihn von vornherein in einem Kontext von Unterstellungen liest. Zum einen provoziert der Befund dadurch, dass er der zum Dogma gewordenen Lehrmeinung widerspricht, nicht nur Männer untereinander und Frauen untereinander seien genetisch zu 99,9% gleich, sondern auch Frauen und Männer. Zum anderen dürfte die Provokation einer Lesart geschuldet sein, in der feministische Interpreten darauf geeicht sind, stets und überall männlich-weibliche Hierarchien sowie Abwertungs- und Unterdrückungsverhältnisse zu erwarten. In diesem interpretativen Rahmen ist es nahezu zwangsläufig, dass der Befund als Höherwertung des Mannes und als Abwertung von Frauen zum Schimpansen gedeutet wird. Tatsächlich insistiert Kutschera aber darauf, dass die Evolutionsbiologie nicht von einem hierarchischen, sondern von einem Komplementärverhältnis der beiden menschlichen Geschlechter ausgeht, das mit einer ursprünglichen Arbeitsteilung korrespondiert und in evolutionären Zeiträumen entstanden ist. Die Deutung der Geschlechterbeziehung als Hierarchie ist dagegen eine Voreingenommenheit, die nicht der Biologie, sondern der feministischen Erwartungshaltung entstammt. Die feministische Kritik des biologischen Befundes wird auf diese Weise zum Opfer ihrer eigenen »sozialen Konstruktion« von Deutungsmustern.

Dies führt dazu, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Gender Studies sich reflexhaft gegen jede Infragestellung ihres Weltbildes sperren und darauf mit politischen Denunziationen reagieren. Das geschieht nicht nur auf der Ebene von feministischen Politkommissaren, die einen Vortrag Kutscheras im Studium Generale der Universität Marburg verhindern wollen, sondern auch im Prozess feministischer »Wissenskonstruktion« selbst. Ein auch von Kutschera genannter Sammelband (Hark/Villa 2015) beispielsweise reagiert auf die inhaltliche biowissenschaftliche Kritik an den Gender Studies mit der Konstatierung einer »anti-genderistischen« politischen Diskurses, für den konservative und politisch  rechtsstehende öffentliche Äußerungen durchforstet werden. Damit wird insinuiert, die Kritik an der Gender Studies bestünde in nichts anderem als solchen politischen Statements und nicht zuallererst auch in biowissenschaftlichen Einwänden. Die Editorinnen Hark und Villa selbst verwechseln notorisch die Ebene einer kulturellen Konstruktion von Geschlechtsrollen mit den Befunden zu einer biologischen Geschlechtsidentität und wollen schon in der Biologie des 19. Jahrhunderts nichts anderes sehen als eine ideologische Veranstaltung zur Rechtfertigung der bürgerlichen Geschlechtsrollen, mit denen zumindest für einen bestimmten Zeitraum die Verweigerung höherer weiblicher Bildung verbunden gewesen ist. Kutschera zeigt dagegen auf, dass auch die Biologie des 19.Jahrhunderts zum Thema des Geschlechts bereits für die Gegenwart wegweisende Erkenntnisse erarbeitet hat, die sich nicht mit dem Vorwurf einer ideologischen Fixierung beiseite wischen lassen.

Er demonstriert, dass die Biologie des 19. Jahrhunderts unabhängig von ihrem ideologischen Mißbrauch auch heute noch gültige Wissensbestände über den Mensch und die Geschlechter erarbeitet hat, und dass Vertreter der Naturwissenschaften durchaus auch in der Lage waren, progressive Konsequenzen aus ihren Forschungen abzuleiten. Die Darstellung der Biologie des 19. Jahrhunderts als einer durchgängig und prinzipiell von Rassismus und Sexismus kontaminierten Wissenschaft ist daher eine unzulässige Geschichtsklitterung. Diese Argumentation hat auf Seiten der Sozialwissenschaften dazu geführt, die sozialkonstruktivistische Methodenlehre für der naturwissenschaftlichen Begriffs- und Urteilsbildung grundsätzlich überlegen zu halten und das Urteil unter Schlagworten wie »Szientismus«, »Positivismus« oder »Essentialismus« auf die Biologie als Ganzes, also auch auf ihre späteren und heutigen Vertreter auszudehnen. Diese Folgerung ist nicht jedoch nicht nur nicht zu rechtfertigen, sondern hat obendrein die Fähigkeit der Sozialwissenschaften zu einer interdisziplinären Debatte mit den Naturwissenschaften schwerwiegend beeinträchtigt. Dies ist nicht nur im Kontext des Feminismus geschehen: so war beispielsweise der von Jürgen Habermas an Sigmund Freud gerichtete Vorwurf eines »szientistischen Selbstmissverständnisses« rezeptionsgeschichtlich überaus folgenreich, obwohl er sich in der Sache schließlich als eklatant verfehlt herausgestellt hat und Habermas seinen eigenen Ansatz in dieser Frage nur wenige Jahre später nicht mehr weiter verfolgt hat. In der Folge hat sich insbesondere in den mit politischen Forderungen überfrachteten Bereichen der Sozialwissenschaften wie den Gender Studies die Ignoranz und Verdrängung der Naturwissenschaften zu einer aktiv betriebenen Rezeptionsblockade und Verdrängung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verselbständigt.

Am Ende verrennt sich die feministische Kritik in eine bloße Projektion ihres eigenen Verhaltens auf das Gegenüber. Die eingeübte Praxis, überall »soziale Konstruktionen« und Ideologien zu erwarten und zu sehen, führt zum Verlust der Fähigkeit, Begriff und Methodik der naturwissenschaftlichen Empirie überhaupt noch verstehen zu können. Die »diskursive Macht« und »diskursive Herrschaft«, die Feminismus und Gender Studies allerorten am Werke sehen, wird von ihnen gegen die Biowissenschaften selbst ausgeübt. Die Gender Studies beruhen konstitutiv auf einem aktiven, mit diskursiver und politischer Gewaltausübung bewehrten Unsichtbarmachen der Biologie. Da sie gesichertes biologisches Wissen über mittlerweile Jahrzehnte hinweg fehlinterpretiert, ignoriert, ausgegrenzt, verleugnet, denunziert und diskursiv unsichtbar gemacht haben, überrascht es nicht, dass deren Vertreterinnen angesichts von Kutscheras Thesen nunmehr aus allen Wolken fallen. Die Empörung über Kutscheras Polemik ist dabei ein bloß vorgeschobener Grund: sie verdeckt, dass Gender Studies und Feminismus der biowissenschaftlichen Kritik praktisch niemals auf der inhaltlichen Ebene begegnet sind – weil sie im Lichte dieser Argumente zu Staub zerfallen würden wie Graf Dracula in der Sonne.

Kutscheras Buch enthält noch viele weitere Einzelthemen und provokante Formulierungen, auf die hier nicht im Einzenen eingegangen werden kann. An dieser Stelle mag jedoch die Frage aufkommen, ob denn der Rezensent an Kutscheras Buch überhaupt nichts zu kritisieren hat. Angesichts dessen, was ich für die wesentliche Leistung des Buches halte, fällt dieser Part tatsächlich gering aus. Zu nennen wäre der oftmals tatsächlich etwas hölzerne, hausbackene und altväterliche Stil. An einigen Stellen entgleitet Kutschera auch die Genauigkeit des eigenen Arguments: so kritisiert er im Zusammenhang eines Berichts über eine Unterrichtseinheit zur Sexualerziehung das Verhalten des Lehrers in bezug auf männliche und weibliche Körperkraft. Dort geht es um die vergleichsweise banale Frage, ob man immer nur Jungen einen Overheadprojekt tragen lassen soll. Kutscheras Einwand lautet: »Junge Männer haben eine erheblich höhere Muskelmasse als gleichaltrige Mädchen und einen ganz anderen, auf mechanische Arbeit hin evolvierten Körperbau. Daher ist es vernünftig und sinnvoll, dass die Jungen, und nicht die pubertierenden Mädchen den Overhead-Projektor zu tragen haben (Sexual-Dimorphismus)« (Kutschera 2016, S. 315) Hier unterläuft Kutschera ersichtlich der Fehlschluss vom statistischen Mittel auf den Einzelfall, den er in seiner sonstigen Argumentation selbstredend kennt. (Als Vater von zwei schulpflichtigen Kindern fallen mir sofort real beobachtete Konstellationen ein, in denen dieser »Schleppdienst« definitiv von einem kräftig gebauten Mädchen anstatt von einem schmächtig gebauten Jungen geleistet werden müsste.) Hier wird man bei Kutschera wachsam sein dürfen, ohne darum die grundsätzliche Plausibilität seiner Argumente verwerfen zu müssen. Generell wird man von ihm aber nicht die Beantwortung der Frage erwarten, auf welche Weise sich bestimmte physiologische und psychologische Geschlechterdispositionen in soziale Praktiken und Institutionen übersetzen. Dies ist die Aufgabe einer kulturanthropologischen Soziologie, welche die Biologie als benachbarte Grundlegungswissenschaft für die eigene anthropologische Ausgangsposition ernst nimmt anstatt sie zu ignorieren oder politisch zu verdammen.

Literatur:

  •  Butler, Judith (2009), Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamps
  • Degele, Nina (2008), Gender / Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink (UTB)
  • Hark, Sabine; Villa, Paula-Irene (2015), »Eine Frage an und für unsere Zeit«. Verstörende Gender Studies und symptomatische Missverständnisse. In: dies. (Hrsg.): Anti-Genderismus Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript, S. 14-39
  • Kutschera, Ulrich (2007)(Hrsg.), Kreationismus in Deutschland: Fakten und Analysen. Berlin: Lit-Verlag
  • Kutschera, Ulrich (2006, 2015), Evolutionsbiologie. Ursprung und Stammesentwicklung der Organismen. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Eugen Ulmer (UTB)
  • Kutschera, Ulrich (2016), Das Gender-Paradoxon. Mann und Frau als evolvierte Menschentypen. Berlin: Lit-Verlag
  • Repo, Jemima (2016), The Biopolitics of Gender. Oxford – New York: Oxford University Press

41 Kommentare zu „»Der Kaiser ist nackt!« Ulrich Kutscheras Angriff auf die Gender Studies.“

    1. Danke! Ich brauche jetzt aber erst mal ein paar Tage Pause, bevor ich mich mit Deinem und Christians Post befasse – die ich nach Diagonal-Lektüre beide interessant finde: sieht nach einem Schritt in Richtung konstruktive Diskussion aus. 🙂

      1. Wenn Du wieder Zeit hast, wäre ich Dir dankbar für eine Antwort auf die Frage, was Kutschera unter „Geschlechtsidentität“ versteht.

        Bei meiner eigenen Aufarbeitung der Literatur dazu (s. dazu i.d.R. synonym Sexuelle Identität) bin ich zur Einschätzung gekommen, daß es sich hier üblicherweise um einen psychologischen Geschlechtsbegriff handelt, keinen biologischen.
        Die Zitate von Kutschera deuten für mich darauf hin, daß er unter Geschlechtsidentität etwas versteht, was sonst eher als Phänotyp bezeichnet wird. (Beim Begriff Phänotyp werden i.a. nicht nur anatomische Merkmale. sondern auch Verhaltensmerkmale einbezogen.) Geschlechtsidentität im Sinne von Selbstkonzept kann man aber nicht sicher von außen erkennen, die Existenz von Transsexuellen spricht zumindest vordergründig dagegen.

      2. @mitm:

        Kutschera spricht wörtlich von »Geschlechts-Orientierung« an einer Stelle, wo er aus einem Zitat »gender orientation« übersetzt. (S. 286) An anderer Stelle verwendet er den Begriff »Transsexueller« als »verweiblichter Mann« (S. 295), er liefert aber noch eine ausführlichere Definition: »Bei den zuerst genannten Personen (Intersexuelle) liegt eine biologische Ursache zugrunde (m/w, bzw. nicht eindeutig m oder w), während sogenannte Transsexuelle anatomisch ›normale‹ Männer und Frauen sind, die jedoch, im Gehirn, sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. (…) Dies bedeutet jedoch nicht, dass es, biologisch betrachtet, mehr als zwei Geschlechter gibt.« (S. 372 f.)

        Dieses »Gehirngeschlecht« dürfte dem von Dir gemeinten psychologischen Geschlecht (»Selbstkonzept«) entsprechen. Den Begriff »Geschlechtsidentität« habe ich benutzt, er ist aber im Hinblick auf das oben ergänzte Kutschera-Zitat tatsächlich missverständlich. Darüber, wie dieses »Gehirngeschlecht« zustande kommt, sagt er leider nichts definitives, am deutlichsten ist noch das folgende Zitat: »Transsexuelle Menschen (T, z.B. Männer, die sich als Frau empfinden, obwohl sie biologisch dem XY-Geschlecht angehören) zählen ebenfalls zum LGBT-Komplex. Im Jahr 2008 schätzte man, dass sich in Deutschland 1 Mann unter ca. 12.000 Geschlechtsgenossen ›im falshen Körper‹ fühlt und daher, über Estrogen-Behandlung und operative Eingriffe, in eine ›XY-Frau‹ transformieeren lässt. Da die Zahl dieser ›Trans-Frauen‹ seit Jahren zunimmt, ist es denkbar, dass hier ein Modetrend zugrunde liegt, denn als ›Trans-Gender‹ gilt man als etwas Besonderes. Wie dem auch sei – bei echten Trans-Menschen scheint die Ursache des Wunsches nach Geschlechtsumwandlung genetisch-biologisch verankert zu sein.« (S. 226 f.) D.h. das »Gehirngeschlecht« kann vom chromosomalen Geschlecht abweichen, führt aber ebenfalls zu einer nicht frei wählbaren, biologisch festgelegten, entweder männlichen oder weiblichen Selbstzuordnung.

      3. @djadmoros: danke für die Erläuterungen!

        „Darüber, wie dieses »Gehirngeschlecht« zustande kommt, sagt er leider nichts definitives,“

        Wundert mich inzwischen nicht mehr. Das ist wieder so ein sehr nebulöser Begriff in der Geschlechterdebatte, der suggeriert oder suggerieren soll, daß die Geschlechtsidentität (i.S.v. sexuellem Selbstkonzept) irgendwie biologisch determiniert ist. Dabei bleibt weitgehend unklar, was Geschlecht bzw. Geschlechtsidentität darin bedeuten soll. Ich habe meine Darstellung des Begriffs sexuelle Identität noch einmal überarbeitet und erweitert und die teils prinzipiell verschiedenen Konkretisierungen, die ich bisher gesehen habe, nebeneinandergestellt.

        Das alles vor allem mit Blick auf die Frage, ob die Geschlechtsidentität – oder irgendeine spezielle Konkretisierung davon – biologisch bestimmt ist. Diese Frage ist mMn ziemlich wichtig, denn die Geschlechtsidentität hat bei fast allen Begriffsvarianten erhebliche Auswirkungen auf das Sozialverhalten einer Person. Je länger ich darüber nachdenke bzw. nachlese, desto unklarer erscheint mir allerdings die Lage.

        “ …. bei echten Trans-Menschen scheint die Ursache des Wunsches nach Geschlechtsumwandlung genetisch-biologisch verankert zu sein.«“

        Kutschera als hardcore-Biologe spekuliert darauf („scheint .. zu sein“), daß die Geschlechtsidentität biologisch verankert ist, allerdings ohne die leisteste Idee, wie das funktionieren soll. Wundert mich ein bißchen.

        „… führt aber ebenfalls zu einer nicht frei wählbaren, biologisch festgelegten, entweder männlichen oder weiblichen Selbstzuordnung.“

        Ob das so stimmt bzw. was „männlich“ bzw. „weiblich“ hier genau bedeutet und ob es nicht mehr Alternativen gibt, ist gerade das zentrale Problem der Begriffsdefinition von Geschlechtsidentität.

      4. @mitm:

        Wie siehst Du in Deiner Darstellung der sexuellen Identität die Bedeutung der Puppen/Auto-Experimente und Augenkontakt-Experimente mit Säuglingen? Die werden ja als Beleg für eine geschlechtsspezifische Verhaltensorientierung »ab Geburt« bewertet, auch wenn sie mangels Selbstbild noch nicht als »Selbstkonzept« gewertet werden können.

        Was Kutschera zum Gehirn sagt, entspricht ungefähr dem, was ich auch bei Gerhard Roth gelesen habe: dass es in den Details der Gehirnanatomie durchaus erhebliche typische Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Das stellt uns dann aber vor das allgemeine Problem der Hirnforschung, eben die anatomische und funktionelle Ebene irgendwie mit der Ebene des phänomenalen Selbst (und des sexuellen Selbstkonzeptes) verbinden zu müssen. Aber völlig ausweglos scheint mir die Absicht, im Gehirn biologische Indikatoren für »Geschlecht« zu identifizieren, darum nicht.

      5. „Wie siehst Du in Deiner Darstellung der sexuellen Identität die Bedeutung der Puppen/Auto-Experimente und Augenkontakt-Experimente mit Säuglingen?“

        Wenn man von den beiden Standard-Identitäten Mann/Frau ausgeht, spielen diese Experimente bzw. die darin gezeigten Interessensunterschiede zwischen Jungen und Mädchen mMn keine Rolle, weil die Identität anhand des wahrgenommenen biologischen Geschlechts gewählt wird, dazu muß man nur Menschen klassifizieren können.

        Wenn man komplizierte Identitäten, die aber erst mit steigendem Alter ab der Pubertät auftreten, unterstellt, oder sogar einzelne geschlechtsbezogene Verhaltensmuster, dann sind mMn diese angeborenen Verhaltensweisen bzw. -differenzen nur ein Einflußfaktor von vielen, kein alleine entscheidender. Nach meinem Eindruck fließen z.B., das eigene Körperempfinden, körperliche Konstitution, natürlich die Umwelt und was man dort beobachtet, erste sexuelle Kontakte usw. in die Bildung der sexuellen Identität ein. Wobei man immer zuerst klären muß, wie sich die Identitäten manifestiert. Der Begriff ist zu schwammig.

        Außerdem unterliegt man bis zur Pubertät dermaßen vielen äußeren Einflüssen, daß die Dispositionen im Kleinkindalter kaum noch als alleinige Ursache glaubwürdig sind.

        “ …. auch wenn sie mangels Selbstbild noch nicht als »Selbstkonzept« gewertet werden können“

        Das Satz ist genau der Punkt. Diese extrem frühen Verhaltensunterschiede und Dutzende weitere sind dazu brauchbar, das genderfeministische Dogma zu widerlegen, Männer und Frauen hätten statistisch gleich verteilte Talente, Interessen usw. Diese Gleichverteilungsannahme wird immer zweckgebunden als Argument für diktatorische Eingriffe wie z.B. Quoten politisch präsentiert und nur in diesem Kontext benutzt. Man kann sie aber nicht brauchen, um daraus Jahrzehnte später stattfindende Verhaltensweisen kausal abzuleiten.

        Die sexuelle Identität und vor allem deren biologische Determiniertheit wird auch nur in speziellen Kontexten argumentativ benutzt, nach meinem Eindruck nur dann, wenn es um Trans-Personen geht.

        Darüber, wie sich die medizinisch beobachteten Unterschiede zwischen typischen Männer- und Frauengehirnen auswirken, kann man mMn glaubwürdig spekulieren, aber nichts beweisen. Sie sind viel zu grobkörnig, m.W. wird da nur der Aktivitätsgrad in den Gehirnregionen gemessen. Das ist so ähnlich, wie wenn man einen Superrechner hat, der in 100 Racks eingebaut ist, und man kann nur den Stromverbrauch pro Rack beobachten, kennt aber kein einziges der Programme, die auf den dort untergebrachten CPUs laufen.

        Zufällig habe ich vor ein paar Tagen noch hier und hier etwas dazu geschrieben, ob wir die neuronale Netze in unserem Gehirn auch nur entfernt verstehen.

        „Aber völlig ausweglos scheint mir die Absicht, im Gehirn biologische Indikatoren für »Geschlecht« zu identifizieren, darum nicht.“

        Ich bin sogar ziemlich sicher, daß man mit den biologisch meßbaren Indikatoren die Gehirne ziemlich gut und fehlerfrei nach Geschlecht klassifizieren kann, aber keine viel genaueren Aussagen machen kann. Vielleicht noch eine gute Prognose für bestimmte Talente, die irgendwie lokalisiert werden.

    2. Die Einteilung ist nicht sehr dienlich.

      Allein weil sie viel zu viel verschiedene Ebenen vermischt und insoweit in sich keine Abgrenzung bietet.

      Ein „Computermodell“ kann man beispielsweise mit den anderen beiden Ausrichtungen die du nennst ebenso vertreten. Es wirkt sich insoweit nicht aus. Vielleicht vertritt es Kutschera sogar.

      Sieht man ja auch daran, dass ich die gleichen Theorien zur Entstehung der Geschlechter durch pränatales Testosteron vertrete wie Kutschera (und der Rest der Biologie)

      Und bei „Rasse“ geht es gleich um ein gänzlich anderes Thema, es ist ebenfalls unabhängig davon, ob man ein Computermodell oder einen Anti-Queer-Feminismus vertritt. Es ist auch hier problemlos zu vereinbaren, etwa indem man Rushton folgt.

      Insofern betreffen deine Differenzierungen vollkommen verschiedene Ebenen.

      1. Selbst wenn: Er vertritt dennoch die gleichen Theorien und hat sich zu Computermodellen nicht geäußert.

        Andere schlaue Menschen, wie zB Dawkins verwenden es durchaus:

        [W]e may now be on the threshold of a new kind of genetic takeover. DNA replicators built ’survival machines‘ for themselves — the bodies of living organisms including ourselves. As part of their equipment, bodies evolved onboard computers — brains. Brains evolved the capacity to communicate with other brains by means of language and cultural traditions. But the new milieu of cultural tradition opens up new possibilities for self-replicating entities. The new replicators are not DNA and they are not clay crystals. They are patterns of information that can thrive only in brains or the artificially manufactured products of brains — books, computers, and so on. But, given that brains, books and computers exist, these new replicators, which I called memes to distinguish them from genes, can propagate themselves from brain to brain, from brain to book, from book to brain, from brain to computer, from computer to computer.”

      2. Das macht deine Einordnung ja dennoch nicht sinnvoller.
        Sie bewegt sich auf gänzlich verschiedenen Ebenen, die problemlos überlappen können.

        Kutschera und Dawkins selbst verstehen sich übrigens ganz gut:

        Seit April 2015 arbeitet der AK Evolutionsbiologie mit der Richard Dawkins Foundation for Reason and Science zusammen. Dabei ist Kutschera als wissenschaftlicher Berater für die Richard Dawkins Foundation tätig.

      3. Kannst du dir nicht mal diese Überheblichkeit abgewöhnen, Elmar? ich bekomme allmählich den Eindruck, dass sie typisch ist für Philosophen.

  1. Auch von mir ein Dankeschön für diesen hervorragenden Artikel, der mehr ist als nur eine einfache Rezension. Fast schon ein Exzerpt 😉

    Aus dem Artikel schließe ich, dass Kutschera sich wohl sehr zeit- und energieintensiv an den diversen Strohpuppen und Nebelkerzen abarbeitet, welche „Gender Studies“ gerne in die Gegend stellt.

    Auch ist sein Vergleich mit dem Kreationismus etwas schräg, dieser hat – im Gegensatz zu Gender Studies – ja eher keinen Gestaltungswillen.

    Witzigerweise scheint er ja den Schlüssel des Verstehens für das ganze Sujet durchaus in Händen gehalten, aber dann doch in das falsche Schloss gesteckt zu haben. Gemeint ist diese Passage:

    „»Im Gegensatz zu homoerotisch veranlagten Männern ist die lesbische Zuneigung wesentlich flexibler und auch von Umweltfaktoren gesteuert. Heteronormale Frauen können somit, bei anhaltend negativen Erfahrungen mit Männern sowie unter dem Einfluss politischer Lesben-Propaganda, relativ leicht ›umgepolt‹ werden, entweder vollständig oder nur teilweise.« (Kutschera 2016, S. 259)“

    Nun darf man dies getrost mal aus dem strikten sexuellen Kontext lösen und einmal als generelles Muster annehmen. Dann versteht man auch, warum Kritiker gerne mit der ganz großen Hysterie-Keule mundtot gemacht werden sollen, anstatt eine gepflegten, auf dem Austausch wissenschaftlicher Argumente basierenden, Diskussion führen zu wollen…

    1. Der thematischen Bandbreite von Kutscheras Buch gerecht zu werden, ist ziemlich schwierig, und meine Rezension enthält definitiv eine subjektive Gewichtung, insofern ist der Begriff »Exzerpt« nicht ganz passend, weil ich dafür zu selektiv war.

      Ich glaube, wenn man als Biologe mit dem Kreationismus konfrontiert ist, bekommt man dessen »Gestaltungswillen« durchaus zu spüren. Kutschera ist nach eigener Aussage von Kreationisten ähnlcih massiv angegangen worden wie jetzt von der Genderista. Der Unterschied ist, dass Gender Studies im wesentlichen immer noch unangefochtene gesellschaftliche und akademische Legitimität genießen, während im Fall der Kreationisten der Bonus bei ihren Kritiker liegt.

      Darum halte ich Kutscheras Vorstoß für wichtig: wenn sich akademische Biowissenschaftler innerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs gegen die Genderei wehren, dann könnte die Debatte den Status eines wissenschaftlichen Methodenstreits wie seinerzeit der Positivismusstreit oder der Historikerstreit erlangen, was es auch dissidenten Sozialwissenschaftlern erleichtern würde, sich zu Wort zu melden. Es wäre dann nicht mehr so einfach, Kritiker als rechtslastigen, außeruniversitären Pöbel zu diffamieren.

      1. Interessanter Ansatz.

        Allerdings denke ich, dass Geschlechterthemen einen deutlich höheren massenwirksamen Emo-Faktor haben denn esoterische Diskussionen über Methoden und Werturteile in der Wissenschaft oder auch der Historiker-Streit (der ja immerhin über den Elfenbeinturm hinaus auch in den Feuilletons wogte)…

        Schreibt Kutschera eigentlich auch etwas über die Motivation der Genderistas?

  2. Vielen Dank für diesen Text! Gerade weil medial simpel-abfällige Darstellungen Kutscheras verbreitet sind (hier z.B.: http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/universitaet-kassel-professor-ulrich-kutschera-zieht-ueber-genderforschung-her-a-1050888.html ), ist es wichtig, auch einmal einen Text vorliegen zu haben, der Kutscheras Argumentation nachvollzieht.

    Zwei Anmerkungen hab ich noch, die erste: „diskursives Unsichtbarmachen der Biologie auf sprachlich hohem Niveau“ attestierst Du Butler. Ich finde Butlers Sprache allgemein nicht so idiotisch, wie ihre Gegner das tun – sie schreibt halt in einem poststrukturalistischen Jargon, der in manchen Fachbereichen nun einmal verbreitet ist. Es ist aber in meinen Augen auch keine Sprache auf hohem Niveau. Sie ist durchgängig abstrakt, und dies auf eine Weise, die ich unseriös finde: Butler benutzt Jargon, um konkrete Probleme zu überspielen, die sich aus ihren Überlegungen ergeben. Dazu gehört bei ihr eine beständige Herrschaftsunterstellung, von der sie Abstand nehmen müsste, wenn sie sich beispielsweise tatsächlich einmal mit konkreten Ergebnissen der Biologie – oder anderer Fachbereiche – auseinandersetzen würde.

    Die zweite Anmerkung hängt damit direkt zusammen. „Mit diesem durch keinerlei empirische Fakten belegbaren Glauben verfolgen die Sozial-Konstruktivisten ein politisches Ziel.“ Mich stört die fast durchgängig abfällige Verwendung des Begriffs „Sozialkonstruktivismus“ (oder „soziale Konstruktion“) bei Nicht-Soziologen. Fast beständig wird dabei suggeriert, wer den Begriff verwende, wolle damit ausdrücken, dass es eigentlich keine biologischen (oder überhaupt naturwissenschaftlichen) Tatsachen gäbe, sondern dass wir uns die Welt durchgängig so konstruieren könnten, wie sie uns passt. Als ob es eigentlich keine reale Welt gäbe.

    Das stimmt aber so nicht – dass etwas eine Konstruktion ist, bedeutet nicht, dass es nicht real ist. Häuser z.B. sind architektonische Konstruktionen – aber daraus folgt weder, dass sie beliebig auch ganz anders konstruiert werden könnten, noch, dass sie irgendwie nicht real wären. In der Wissenschaft sind Theorien Konstruktionen – Aussagen, die nicht völlig unabhängig voneinander beliebig getroffen werden, sondern die aufeinander aufbauen und die systematisch aufeinander bezogen sind. Das bedeutet offenkundig nicht, dass sie nichts über die Welt mitteilen. Die Behauptung, dass jeder Satz der Biologie eine Konstruktion sei, ist also eher trivial als skandalös.

    SOZIAL sind diese Konstruktionen, weil nicht jeder sie für sich beliebig allein herstellen kann (wie in Peter Bichsels Lesebuchgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“), sondern weil sie sozial geteilt sind. Sie gehen von gemeinsamen, anerkannten Sätzen aus, und ihre Ergebnisse müssen für andere und in anderem Kontext nachvollziehbar sein. Kutschera verpasst eine mögliche Kritik an Gender-Theorien, wenn er (den Eindruck habe ich jedenfalls aus der Rezension gewonnen) die Vorstellungen sozialer Konstruktionen schlichtweg ablehnt: Denn gerade als SOZIALE Konstruktionen sind die „Ergebnisse“ der Gender-Forschung in der Regel verkürzt, einseitig und defizitär, weil sie nur unter der Bedingung aufrecht zu erhalten sind, dass der soziale Austausch erheblich gestört wird. Dass Kutschera zu seinem eigene Fachgebiet in Marburg nicht lesen darf, ist ja nur eines von vielen eindrücklichen und verrückten Beispielen dafür.

    Die Blindheit von Gender-Theoretikerinnen für die massiven Einschränkungen ihrer eigenen (im wörtlichen Sinne eher „a-sozialen“ als) sozialen Konstruktionen hat m.E. einen simplen Grund: Eben die schon oben erwähnte und auch im Text angeführte Fixierung auf Herrschaftsunterstellungen. Soziale Konstruktionen haben demnach nicht wesentlich einen pragmatischen Wert, indem sie sinnvolles Handeln ermöglichen oder erleichtern – sondern eine Funktion als Reproduktion von Herrschaft. Das heißt, Konstruktionen werden in Gender-Ansätzen nicht analysiert, sondern rituell ENTLARVT.

    Die gezielte Spaltung und Störung des sozialen Austausches – das bedeutet hier immerhin: des wissenschaftlichen Diskurses – wird dabei legitimiert durch ein klischeehaftes Freund-Feind-Bild. Auf der einen Seite stehen dann diejenigen, die (wie Kutschera, natürlich) eigentlich keine Wissenschaft, sondern bloß eine Reproduktion und Pseudo-Legitimation von Herrschaft betreiben – auf der anderen Seite die EMANZIPATORISCHEN Wissenschaftlerinnen, die diese Herrschaftsstrukturen offenlegen und damit eigentlich erst wirklich wissenschaftlich tätig wären.

    Aus gendertheoretischer Perspektive ist es daher im Interesse der Wissenschaft, Akteure wie Kutschera aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen. Auch und gerade sozialkonstruktivistisch lässt sich zeigen, wie verrückt und unseriös diese Perspektive ist. Dafür wäre es aber hilfreich, damit aufzuhören, den Begriff „Sozialkonstruktivismus“ als Allround-Schimpfwort zu benutzen. (Unterstelle ich Dir natürlich auch nicht – aber ich hatte den Eindruck, dass Kutschera den Begriff in dieser Weise verwendet.)

    1. @Schoppe:

      Danke für Deinen ausführlichen Kommentar! Kurzgefasste Antwort: Du hast recht! 🙂

      Nun zur Langfassung: ich hätte zu Butlers Stil wahrscheinlich besser »bei hoher Eloquenz« oder ähnliches geschrieben – dazu kam ich, weil Kutscheras Stil wirklich auf Dauer anstrengend hölzern und sperrig wirkt, da war mir schließlich Butlers heiße Luft als warme Brise willkommen 🙂 . Denn inhaltlich stimme ich Deinem Jargon-Vorwurf zu! Ich fand es ziemlich ärgerlich, wie sie im Fall Reimer schon wieder auf »Diskurse« ausgewichen ist.

      Bei Kutschera auf der anderen Seite ist, wie ich finde, nicht immer klar, wo die Grenze zwischen bloßer Polemik und echtem Vorurteil liegt. Meine Kritik an ihm ist insgesamt darum so moderat ausgefallen, weil ich den Eindruck hatte, dass er an der Stelle lernfähig ist. In seinem Buch druckt er auch Mails und Kommentare ab, die sich positiv oder negativ auf seine (ebenfalls mitgelieferten) Interviewskripte beziehen – im rbb-Interview hatte er unterstellt, in der »Sozialkunde« (!) würden Fakten wenig zählen. Er reagiert dann aber auch selbstkritisch auf den Einwand eines Hörers und schwächt solche Aussagen dann ab. Ich kaufe es ihm ab, dass sein Bekenntnis zur Wissenschaftlichkeit für ihn über allem steht, weshalb ich glaube, dass man ihm bei nüchterner und gründlicher Argumentation auch einen sinnvollen Begriff von Sozialkonstruktivismus beibiegen kann. Und er hat in dem Buch auch vermieden, was ich anfangs fürchtete, vorzufinden, nämlich eine ernst gemeinte generelle Abwertung der Sozialwissenschaften.

      Im Kontext seines Buches scheint mir er etwas überdeterminiert von dem Umstand, dass die Genderfraktion eben ständig von sozialer Konstruktion schwafelt, ohne etwas Belastbares damit zu meinen. Da platzt ihm halt der Hals. Aber er äußert sich zum Sozialkonstruktivismus nicht in dem Sinne, dass er explizit etwa einen biologischen Reduktionismus gegen konstruktivistische Ideen verteidigt. Falls er das tatsächlich meint (Sätze wie »Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie« geben ja durchaus Anlass zu solchen Befürchtungen), dann hat er sich mit dieser Ansicht in seinem Buch zurückgehalten. Wobei ich mich nicht darauf verlasse, dass der verlinkte SZ-Artikel ihn tatsächlich fair wiedergibt.

      Aber ich sehe das Problem auch darin, dass die Gender-Theorien einer seriösen Auseinandersetzung zwischen Soziologie und Biologie eben im Wege stehen. Gerade in den Neurowissenschaften gibt es ja tatsächlich auch reduktionistische Auffassungen, die man so nicht stehen lassen kann. Auf eine solche seriöse Auseinandersetzung wollte ich mit meinem abschließenden Absatz, sozusagen als Ausblick, hindeuten.

      1. „Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie«

        Das ist in Abwandlung ein bekanntes Zitat aus der Evolutionsbiologie:
        https://de.wikipedia.org/wiki/Theodosius_Dobzhansky

        Nichts in der Biologie ist sinnvoll, außer im Lichte der Evolution betrachtet“

        Ganz unrecht hat er nicht, wenn man wirklich grundlegend werden will. Menschliches Verhalten erscheint uns nur so normal, dass wir es gar nicht aus dieser Warte betrachten. Wir setzen viele Wünsche und die sinnhaftigkeit und Selbstverständlichkeit bestimmter Verhaltensweisen schlicht voraus.
        Ein einfaches Beispiel wäre Liebe, sei es als Paar oder zu den eigenen Kindern. Oder der Wunsch nach Status, Macht und Ressourcen, nach Anerkennung oder aber auch der Wunsch faul zu sein.

        All das versteht man in der Tat erst, wenn man die Evolutionären Gründe dafür versteht. Nur weil wir das als so normal ansehen finden wir die Einzelheiten von zB Hitlers Machtergreifung interessanter als die Frage, warum wir überhaupt einen Anführer folgen , warum Gruppen und Hierarchien für uns wichtig sind, warum wir so darauf anspringen bestimmte Gruppen zu entmenschlichen etc.

      2. @Christian:

        »Ganz unrecht hat er nicht, wenn man wirklich grundlegend werden will.«

        »Wirklich grundlegend« ist ja, wie ich schon erwähnt habe, die Erarbeitung der anthropologischen Grundlagen für die Sozialwissenschaften. Da gehört die Biologie definitiv mit hinein. Die üblichen Einzelstudien dagegen interessieren sich für die historisch variablen Faktoren.

        Ein Streben nach Macht und Einfluss ist die anthropologische Konstante – aber die typologischen Unterschiede zwischen patriarchaler, patrimonialer, traditionaler, bürokratischer und charismatischer Herrschaft, oder zwischen magischer und ethischer Religion, zwischen Zauberer, Priester und Prophet, Amtskirche und Sekte (um mal in Max Webers Begriffskiste zu greifen) – das alles sind variable Institutionen, die auf demselben Machtstreben aufruhen, und damit der eigentliche Erklärungsgegenstand der Soziologie.

    2. @Lucas: guter Hinweis!

      Nach meinem Eindruck ist das Problem, daß der Begriff Sozialkonstruktivismus mit zwei verschiedenen Bedeutungen benutzt wird:

      1. als soziologische Theorie, wie Wissen sozial entsteht und wonach das entstandene Wissen von den sozialen Prozessen abhängt

      2. als Bezeichnung für eine Debattenstrategie (in der Geschlechterdebatte), in der diese Theorie unzulässig über ihren Gültigkeitsbereich hinaus verallgemeinert und auf naturwissenschaftliches Wissen angewandt wird, um dieses für irrelevant zu erklären.

      Für die 2. Bedeutung müßte man eine klarere Bezeichnung haben. Nach Ian Hacking ist der 2. Fall in der Praxis dominierend, hierzu aus https://en.wikipedia.org/wiki/Social_constructionism 3. Social constructionist analysis:

      „Social construction“ may mean many things to many people. Ian Hacking, having examined a wide range of books and articles with titles of the form „The social construction of X“ or „Constructing X“, argues that when something is said to be „socially constructed“, this is shorthand for at least the following two claims:

      (0) In the present state of affairs, X is taken for granted; X appears to be inevitable.[7]:12

      (1) X need not have existed, or need not be at all as it is. X, or X as it is at present, is not determined by the nature of things; it is not inevitable.[7]:6

      Hacking adds that the following claims are also often, though not always, implied by the use of the phrase „social construction“:

      (2) X is quite bad as it is.

      (3) We would be much better off if X were done away with, or at least radically transformed.[7]:6

      Thus a claim that gender is socially constructed probably means that gender, as currently understood, is not an inevitable result of biology, but highly contingent on social and historical processes. In addition, depending on who is making the claim, it may mean that our current understanding of gender is harmful, and should be modified or eliminated, to the extent possible.

      According to Hacking, „social construction“ claims are not always clear about exactly what isn’t „inevitable“, or exactly what „should be done away with.“

      Die Analyse von Hacking ist von 1999, nach meinem Eindruck trifft sie aber auch heute noch zu.

      PS: Die Soziologie scheint auch nicht ganz sicher zu sein, wie Sozialkonstruktivismus nun genau definiert ist, wenn ich mir diese subtile Begriffsunterscheidung 1 social constructivism vs. social constructionism ansehe.

  3. „Ein wesentlicher Teil dieser Glaubenssätze geht auf die Schriften des amerikanischen Psychologen John Money zurück, die vom Feminismus rezipiert wurden, obwohl ihre wissenschaftliche Unhaltbarkeit bereits in den 60er Jahren nachgewiesen wurde.“

    Beschäftigt sich Kutschera auch mit der feministischen Kritik die es daran gab und weiß Kutschera das Money heute gar keine Rolle mehr in den Gender Studies spielt? Ich mag Kutschera, werde das Buch lesen aber ahne nichts gutes…

    1. @BassmentBoi

      »und weiß Kutschera das Money heute gar keine Rolle mehr in den Gender Studies spielt?«

      Für die These von der Wirkungsgeschichte Moneys beruft sich Kutschera auf Jemima Repos »The Biopolitics of Gender«. Die Autorin setzt Money mit dem »Birth of Gender« in den 50er Jahren gleich und sagt: »It is difficult to exaggerate the importance of Money’s work. Not only was his theory of gender a radical new idea in the sexological field, but helping to disseminate it were a number of students who rose to prominent positions in the medical community, further establishing gender as the foremost theory of psychosexual development.« (Repo, S. 48)

      Kutschera sieht Judith Butlers poststrukturalistische Gendertheorie allerdings als zweite, unabhängige »Säule« des Genderfeminismus, die sich mit John Money zusammenfügt wie SPD und KPD: er illustriert das tatsächlich mit diesem netten Bild hier: Money steht bei ihm für die Säule »Psychologie und Erziehung«, Butler für die Säule »Soziologie und Feminismus«. Das Resultat ist dann der »Glaube an den Unisex-Menschen«, die »Moneyistische Gender-Ideologie«.

      Dadurch, dass er Butler als zweite Quelle berücksichtigt, dürfte er dem Einwand gerecht werden, dass Money heute keine Rolle mehr spielt. Mit einer feministischen Kritik an Money beschäftigt er sich allerdings nicht – angesichts von Butlers Einfluss sieht er dafür möglicherweise keinen Anlass.

  4. Leider kommt in der Diskussion die gesellschaftszerstörende Wirkung von Gender Mainstreaming zu kurz. Aber bald deutlich werden sollte, dass Gender Mainstreaming auch ein wenig ungesund für Frauen, Mütter und Kinder ist.
    Zum Beispiel das durch die Gleichmacherei begünstigte Negieren bedeutsamer und dem Mann überlegener weiblicher Eigenschaften mit der Folge, dass häufig der Body nur noch wichtig und die an sich höhere weibliche Depressionsneigung noch gesteigert werden. Vergessen der -bei der gleich nach der Geburt geforderten beruflichen Selbstverwirklichung – für Sprach- und Kognitiventwicklung wichtigen frühkindlichen Mutterbindung (infolge des frühen flüssigkeitsgekoppelten Hörens des Foeten im Mutterleib) mit der Folge von Sprach-, Lese- und Rechtschreibstörungen durch Fremdbetreuung.
    Probleme durch Cortisolausschüttung (gefährliches Stresshormon) und Schlafmangel mit entsprechendem Wachstumshormonmangel von Krippenkindern mit Hippocampusminderung (Lernmaschine des Gehirns).
    Erschreckende Zunahme von Depressionen auch bei Kindern und Jugendlichen.
    [siehe „Kinder – Die Gefährdung ihrer normalen (Gehirn-) Entwicklung durch Gender Mainstreaming“ in: „Vergewaltigung der menschlichen Identität. Über die Irrtümer der Gender-Ideologie, 6. Auflage, Verlag Logos Editions, Ansbach, 2015: ISBN 978-3-9814303-9-4 (http://www.amazon.de/Vergewaltigung-menschlichen-Identität-Irrtümer-Gender-Ideologie/dp/3) und „Es trifft Frauen und Kinder zuerst – Wie der Genderismus krank machen kann“, Verlag Logos Editions, Ansbach, 2015: ISBN 978-3-945818-01-5 (http://www.amazon.de/trifft-Frauen-Kinder-zuerst-Genderismus/dp/394581801X)

    1. @labolg:

      »Leider kommt in der Diskussion die gesellschaftszerstörende Wirkung von Gender Mainstreaming zu kurz.«

      Auf die Sprachgewöhnung im Mutterleib geht Kutschera bei seiner Diskussion der Leihmutterschaft (die er ablehnt) ausdrücklich ein, ebenso auf die Probleme von Krippenkindern. Insofern liegt das Problem bei der vom Rezensent getroffenen Auswahl: Kutschera schneidet viele Themen an, und ich konnte in meinem Text nicht allen gerecht werden – ich hätte sie vielleicht in der Art eines »topic dropping« erwähnen können, aber sie alle inhaltlich zu repräsentieren, hätte aus der Rezension tatsächlich ein Exzerpt gemacht.

      Der These einer »gesellschaftszerstörenden Wirkung« des GM würde Kutschera daher meinem Eindruck nach beipflichten.

    2. Ich denke eher, dass die erhoffte gesellschaftsverändernde Wirkung von Gender Mainstreaming (hat wenig mit Gender zu tun und ist ein Synonym für Frauenförderung) zentraler Punkt der meisten Diskussionen darüber ist.

      Wobei tatsächlich die Diskussionen zumeist eher oberflächlich geführt werden und natürlich viele Akteure auf der Diskursbühne eine doppelte Agenda haben. Das macht es sicher nicht leichter, einen „wirklichen“ Dialog zu führen.

      Am Ende von diesem wären die beiden Seiten aber trotzdem unversöhnlich konträr. Also was sollte der Dialog bringen?

  5. Ich habe das Buch Anfang März über eine Buchhandlung beim Verlag bestellt und es ist immer noch nicht eingetroffen.

    Wo habt ihr es gekauft?

    1. @El_Mocho:

      Ich hatte hier vor einer Woche schon versucht, vom Mobilgerät aus zu antworten, aber das ist wohl in der Leitung versackt.

      Ich hatte das Buch direkt bei Erscheinen direkt bei Lit bestellt und zügig geliefert bekommen. Sollte für einen Buchhändler auch nicht allzu schwer sein, finde ich.

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