»Patriarchat«: nochmals zur Begriffsbestimmung (V)

Meine Erwiderung auf Jonas. Möglicherweise nähern wir uns dem Punkt eines agree to disagree, insofern wir nun bei grundsätzlichen Unterschieden in der Begriffsverwendung angekommen sind.

Unsere Kontroverse scheint sich um drei Begriffe zu drehen: außer »Patriarchat« noch um »Kausalität« und »Ableitung« bzw. »hervorgehen«.

»Ich lege überhaupt kein Kausalmodell zugrunde, wie du es hier verstehst. (…) der absolutistische Staat ist eben trotzdem aus der patriarchalen Familie hervorgegangen oder aus ihr heraus entstanden oder aus ihr abgeleitet. Nicht im Sinne kausal aus etwas entstanden, sondern ganz einfach nur „materiell“ aus etwas entstanden.«

Die Unterscheidung zwischen »kausal entstanden« und »materiell entstanden« ergibt für mich keinen Sinn. Kausalität ist ein Grundbegriff der Erkenntnis und in seiner Gültigkeit nur dort eingeschränkt, wo (und wenn) man teleologische Prozesse akzeptiert. Es ist im sozialwissenschaftlichen und historischen Bereich zweifellos eine anspruchsvolle und oft aus Mangel an Daten nicht zu leistende Aufgabe, plausible Kausalitäten anzugeben (m. E. könnten Computersimulationen hier weiterhelfen), aber man kommt nicht umhin, sie bestmöglich zu approximieren. Mir ist insofern schlicht unverständlich, was Du mit »materiell entstanden« meinst. Dementsprechend meine ich auch, dass sich ein Begriff von »Hervorgehen« oder »Ableiten« zumindest im Prinzip als Kausalzusammenhang modellieren lassen muss, auch wenn das historisch-empirisch nicht immer leicht fällt. Man kann zwar eine philosophische Grundsatzdebatte darüber führen, ob der Begriff der Kausalität nicht den Naturwissenschaften vorbehalten bleiben sollte, aber Soziologie und Historik kommen m. E. aus arbeitspraktischen Gründen nicht umhin, die Ebenen von (erneut Webers Terminologie) »deutendem Verstehen« und »ursächlichem Erklären« miteinander zu verbinden.

»sprich: der Patriarchalismus der Familie und der Gesellschaft hat sich hier an neue Gegebenheiten angepasst und blieb dadurch erhalten.«

»Erhaltung durch Anpassung« kann ich im Prinzip nachvollziehen. Soweit ich sehe, hat sich die frühmoderne Familie durch das Entstehen des Absolutismus auch nicht verändert, insofern kann ich der These einer Erhaltung eines »Patriarchalismus der Familie« (mit wieviel »Patriarchatsanteil« auch immer) für diese Epoche zustimmen. Du verklammerst aber erneut »Familie« und »Gesellschaft«, und dem wiederum kann ich nicht zustimmen: auch wenn die Ideologie des Absolutismus sich auf patriarchale Autoritäten beruft, entstehen auf gesellschaftlicher Ebene zugleich die Grundlagen des modernen Verwaltungsstaates, der auf der Geltung formeller, »legal gesatzter« Regeln beruht und der daher den Wegfall der patriarchalen Legitimation überleben wird. Der »Patriarchalismus der Gesellschaft« erodiert meines Erachtens in dieser Epoche, wesentlich auch darum, weil sich der rationale Verwaltungsstaat über die patriarchalen Ansprüche der sich bekriegenden Konfessionen und damit das Prinzip der gesatzten Regel über das Prinzip der patriarchalen Autorität stellt. Es ist ja gerade nicht die Erhaltung einer patriarchalen Ideologie der Zweck des Absolutismus, sondern die Legitimation des Absolutismus der Zweck dieser patriarchalen Ideologie.

Wenn Du nun freilich das Ende des Patriarchalismus erst dort sehen willst, wo die letzte homöopathische Dosis »Patriarchat« aus Familie und Gesellschaft verschwunden ist, dann halte ich das nicht für schlechterdings illegitim. Ich halte es bloß für einigermaßen missverständlich in einer Zeit, in der grobschlächtige feministische Kontinuitätsthesen zu einer intellektuellen Landplage geworden sind. Und auch wenn es von Dir nicht so gemeint sein dürfte, lässt sich jene feministische Prioritätenverzerrung damit assoziieren, derzufolge erst noch die geringsten Benachteiligungen für Frauen zu beseitigen wären, ehe massive Benachteiligungen für Männer thematisiert werden dürfen.

»weil es bis in die 70er Jahre hinein keine Gleichberechtigung von Mann und Frau gab und die Familie bis dahin noch halbwegs patriarchal organisiert war und daher Frauen nicht wirtschaftlich aufsteigen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten. Deswegen redete ich ja auch von der „Industriegesellschaft vor der ‚Emanzipation‘“. Ich glaube, du musst ein bisschen aufmerksamer lesen, was ich schreibe.«

Ich mache jetzt nicht noch ein sozialgeschichtliches Faß auf, sondern vermerke nur, dass ich diese Emanzipation deutlich früher ansetzen würde als in den 1970er Jahren, als von den früheren Hindernissen nur noch leere juristische Hülsen übrig waren. Die Neue Frauenbewegung ist m. E. nicht so sehr aus realer Unterdrückung entstanden als vielmehr aus der Zurückweisung eines nur mehr ideologischen Rollbacks in der Nachkriegszeit, der noch einmal konventionelle bürgerliche Rollenmodelle zu einem Zeitpunkt propagiert hat, als die reale Emanzipation schon längst darüber hinaus war.

»Überspitzt formuliert: Gäbe es keine feministische Umerziehung im weitesten Sinne, keine massenhafte Väterentsorgung und Männerabwertung und keine staatliche und kapitalistische Unterwerfung des Mannes, wäre diese Gesellschaft bald wieder de facto patriarchal, wenn auch nicht de jure. Ähnlich wie auch viele außereuropäische Gesellschaften bis heute de facto (und weniger de jure) patriarchal sind.«

Das ist ein wesentlicher, wenn nicht der zentrale Punkt, an dem unsere Ansichten sich unterscheiden: Du hältst den Begriff des Patriarchats für eine sinnvolle Bezeichnung auch einer präferenzgesteuerten asymmetrischen Arbeitsteilung, ich meinesteils möchte eben diese präferenzgesteuerte asymmetrische Arbeitsteilung explizit von einem Begriff des Patriarchats abgrenzen:

(a) In meinen Augen macht es keinen Sinn, einer präferenzgesteuerten Asymmetrie die Bedeutungskomponente von »Herrschaft« beizulegen, die im Patriarchatsbegriff unweigerlich inbegriffen ist. Für Dich scheint es keinen Widerspruch darzustellen, einen »Herrschaft« bezeichnenden Begriff explizit vom Verdacht freizustellen, »Zwang« zu konnotieren (»aus dieser Veranlagung … heraus entsteht ja spontan (ohne Zwang) das Patriarchat der Familie«), für mich ist dieser Gedanke widersinnig: spontan, ohne Zwang und präferenzgesteuert ist das Gegenteil von Herrschaft. Wenn ich Dich nicht mißverstehe, versuchst Du, diesen Widerspruch in der Unterscheidung zwischen »de facto« und »de jure« aufzufangen, was für mich aber das Problem nicht löst, weil »Herrschaft« stets Normen voraussetzt und insofern niemals ausschließlich »de facto« besteht. Für mich bleibt das eine unpräzise und zu Missverständnissen einladende Begriffswahl.

(b) Meine Erwartung geht dahin, dass sich eine moderne präferenzgesteuerte Arbeitsteilung in einer wesentlichen Hinsicht von ihrem »urgesellschaftlichen« Vorgänger unterscheidet: durch das Ausmaß des im Verlauf des Zivilisationsprozesses akkumulierten Wissens aka Bildung. Ist die ursprüngliche Arbeitsteilung noch primär durch evolutionspsychologische Dispositionen geprägt, so ist dieser Einfluss heute stark »verwässert« durch den Umstand, dass für einen großen Bereich wissensbasierter Tätigkeiten Geschlechtszugehörigkeit im Durchschnitt keine Rolle mehr spielt, wie man beispielsweise bei Lehrern und Ärzten beobachten kann. Die moderne »spontane« Asymmetrie der Präferenzen wird sich also in meiner Erwartung deutlich schwächer auswirken.

»Das ist in etwa das, was ich meine, wenn ich davon rede, dass die heutige Rollenverteilung in der liberalen Gesellschaft mit dem alten Patriarchalismus „etwas zu tun hat“.«

Ich verstehe, was Du meinst, bin aber aus den vorstehend genannten Gründen anderer Ansicht.

16 Kommentare zu „»Patriarchat«: nochmals zur Begriffsbestimmung (V)“

  1. „Mir ist insofern schlicht unverständlich, was Du mit »materiell entstanden« meinst.“

    Ist das echt so schwer zu verstehen? Ich glaube du denkst zu kompliziert. Der absolutistische Monarch ist der Vorsteher eines Adelshauses; er ist von Hause aus ein Patrimon. Nun dehnt er seine patrimonale Macht so sehr aus, dass schließlich das gesamte Staatsgebiet zu seinem Haushalt wird.

    „Der »Patriarchalismus der Gesellschaft« erodiert meines Erachtens in dieser Epoche, wesentlich auch darum, weil sich der rationale Verwaltungsstaat über die patriarchalen Ansprüche der sich bekriegenden Konfessionen und damit das Prinzip der gesatzten Regel über das Prinzip der patriarchalen Autorität stellt.“

    absolut richtig. Genau das ist ja auch meine Theorie (siehe mein Modell).

    „Es ist ja gerade nicht die Erhaltung einer patriarchalen Ideologie der Zweck des Absolutismus“

    Nein, ist er nicht. Wer hat das behauptet? Der Zweck (Kausalzusammenhang) des Absolutismus ist xyz (irgendetwas „extern induziertes“, wie du formulieren würdest) aber die Form („materiell“) des Absolutismus ist die patrimonale (-> patriarchale) Herrschaft. Sind jetzt endlich alle Klarheiten besetigt?

    Wenn man nun bedenkt, dass die Vorfahren des europäischen Adels germanische und slawische(?) Stammesführer, also „echte“ Patriarchen waren, besteht also bis zur Abschaffung der Adelsherrschaft eine durchgehende Traditionslinie.

  2. Wenn Du nun freilich das Ende des Patriarchalismus erst dort sehen willst, wo die letzte homöopathische Dosis »Patriarchat« aus Familie und Gesellschaft verschwunden ist, dann halte ich das nicht für schlechterdings illegitim. Ich halte es bloß für einigermaßen missverständlich in einer Zeit, in der grobschlächtige feministische Kontinuitätsthesen zu einer intellektuellen Landplage geworden sind. Und auch wenn es von Dir nicht so gemeint sein dürfte, lässt sich jene feministische Prioritätenverzerrung damit assoziieren, derzufolge erst noch die geringsten Benachteiligungen für Frauen zu beseitigen wären, ehe massive Benachteiligungen für Männer thematisiert werden dürfen.

    Ja, so war es von mir in der Tat nicht gemeint. Ich hätte vielleicht deutlich machen müssen, dass der Patriarchalismus der Gesellschaft seit dem Mittelalter schon überlagert wird und daher die Existenz patriarchaler Strukturen keineswegs heißen muss, dass z.B. Männer grundsätzlich mächtiger sind oder so.

  3. „dass ich diese Emanzipation deutlich früher ansetzen würde als in den 1970er Jahren“

    ja, sie beginnt schon im 19. JH. Aber vollendet wird sie in den 70ern würde ich meinen.

      1. @Jonas

        Ich glaube, hier bist du leider einem (weiteren) feministischen Revisionismus aufgesessen.
        Das feministische Narrativ (Märchen) ist, nach dem zweiten Weltkrieg erfolgte ein ideologischer rollback, der Widerstand gegen diesen setzte 1968ff ein und mit der zweiten Welle des Feminismus begann die eigentliche Frauenemanzipation.

        Wir hören alten die Schauergeschichten; wie, eine Frau hätte ohne Zustimmung des Mannes nicht arbeiten, kein Konto eröffnen können, 30% weniger Lohn erhalten, usw.
        Der entscheidende Punkt ist, das hat durchaus zugetroffen, jedoch in den kapitalistischen, aber *nicht* in den damals existierenden sozialistischen Staaten.
        Was der bürgerliche Feminismus konstruiert, ist eine Geschichte „der Frau“ mit universeller Unterdrückungserfahrung, die sich in Wirklichkeit auf auf die „westlichen“, kapitalistischen Länder beschränkt.
        Die genannten Schauergeschichten gab es bspw. in der DDR *zur gleichen Zeit* nicht.

        Was tatsächlich historisch passierte, als McCarthyismus bekannt wurde, kannten die Deutschen theoretisch bereits aus den Zeiten von Bismarck: Zuckerbrot und Peitsche.
        War es unter Bismarck die Einheit von Sozialgesetzgebung und Sozialistengesetz, war es später „Kommunisten“hatz und „american way of life“.
        Die westlichen Staaten lebten in einer Systemkonkurrenz zur Sowjetunion und den Satellitenstaaten, nur *repressiv* auf linke Bewegungen zu reagieren hätte diese Staaten des stärksten Arguments beraubt, eine demokratische, freiheitliche Alternative zum „realen Sozialismus“ zu sein.

        Ergo gab es eine Reihe von *Klassenkompromissen*, die wiederum ein alternatives „Lebensmodell“ formulierten.
        Es wird häufig vergessen, dass zum Alleinernährermodell ein Alleinernährerlohn gehört; diesen auszuhandeln ist heute – nach Wegfall der Systemkonkurrenz – unmöglich, damals gab es den politischen Willen.
        Es gab den politischen Willen zur umlagefinanzierten Rente, zur steuerlichen Bevorzugung der Ehe, zu Sozialversicherungssystemen überhaupt, die das Modell der traditionellen Ehe mit traditioneller Arbeitsteilung subventionierte.
        Zusätzlich entstand ein Wohlfahrtsstaat, der es ermöglichte, weibliche Arbeitskraft unterschiedlicher Qualifikation nach eigenem Gusto zu absorbieren. Die akademisch qualifizierte Variante war nicht umsonst eine Fortführung bürgerlicher Weiblichkeit; nämlich in Erziehung, Sozialämtern usw.
        Wäre dieser „alternative Entwurf“ im Rahmen einer Systemkonkurrenz für Frauen tatsächlich das Gefängnis gewesen, als das (West-) Feministinnen dies ex-post darstellen, er wäre nicht gewählt worden.
        Von Frauen.

        Das ist der springende Punkt: Die Feminismen müssen eine Frau „konstruieren“, die willenlos gegen die eigenen Interessen handelt und optiert. Es ist völlig unmöglich- so die Theorie -, dass Frauen gemäß *eigener Interessen gegen* ein Regime stimmen, das Arbeit zum Recht, aber auch zur PFLICHT macht.
        Dagegen spricht das konkrete Wahlverhalten dieser Frauen, würde man es aus ihrer *tatsächlichen Interessenlage* heraus analysieren und nicht als „internalisierte Frauenfeindlichkeit“ auffassen.

      2. @crumar

        von einer „eigentlichen Emanzipation“ rede ich gar nicht. Ich sage nur, dass die 70er zu den historischen Entwicklungen dazu gehören, die man als „Emanzipation“ bezeichnet. Und da in dieser Zeit die letzten juristischen und gesellschaftlichen Hürden für Frauen abgebaut werden ist es eine Vollendung dieses Prozesses.

        Ja im Ostblock war das anders. Aber inwiefern ist das hier relevant?

        „Wäre dieser „alternative Entwurf“ im Rahmen einer Systemkonkurrenz für Frauen tatsächlich das Gefängnis gewesen, als das (West-) Feministinnen dies ex-post darstellen, er wäre nicht gewählt worden.
        Von Frauen. […] Es ist völlig unmöglich- so die Theorie -, dass Frauen gemäß *eigener Interessen gegen* ein Regime stimmen, das Arbeit zum Recht, aber auch zur PFLICHT macht.“

        seh ich genauso. Nichts desto trotz gab es aber eben Frauen, die einen neuen Weg gehen wollten, dabei auf Widerstand stießen und rebellierten.

      3. @Jonas
        Ich hatte hier gestern Abend schon einen langen Beitrag als Antwort verfasst, der leider verschwunden ist, blöderweise habe ich ihn auch nicht kopiert. Hoffe heute auf einen günstigeren Tag.

        „von einer „eigentlichen Emanzipation“ rede ich gar nicht. Ich sage nur, dass die 70er zu den historischen Entwicklungen dazu gehören, die man als „Emanzipation“ bezeichnet. Und da in dieser Zeit die letzten juristischen und gesellschaftlichen Hürden für Frauen abgebaut werden ist es eine Vollendung dieses Prozesses.“

        Zum letzten Satz zuerst:

        „Die Frau der neuen Gesellschaft ist sozial und ökonomisch vollkommen unabhängig, sie ist keinem Schein von Herrschaft und Ausbeutung mehr unterworfen, sie steht dem Manne als Freie, Gleiche gegenüber und ist Herrin ihrer Geschicke. Ihre Erziehung ist der des Mannes gleich, mit Ausnahme der Abweichungen, welche die Verschiedenheit des Geschlechts und ihre geschlechtlichen Funktionen bedingen; unter naturgemäßen Lebensbedingungen lebend, kann sie ihre physischen und geistigen Kräfte und Fähigkeiten nach Bedürfnis entwickeln und betätigen; sie wählt für ihre Tätigkeit diejenigen Gebiete, die ihren Wünschen, Neigungen und Anlagen entsprechen und ist unter den gleichen Bedingungen wie der Mann tätig. Eben noch praktische Arbeiterin in irgendeinem Gewerbe ist sie in einem anderen Teil des Tages Erzieherin, Lehrerin, Pflegerin, übt sie in einem dritten Teil irgendeine Kunst aus oder pflegt eine Wissenschaft und versieht in einem vierten Teil irgendeine verwaltende Funktion. Sie treibt Studien, leistet Arbeiten, genießt Vergnügungen und Unterhaltungen mit ihresgleichen oder mit Männern, wie es ihr beliebt und wie sich ihr die Gelegenheit dazu bietet.

        In der Liebeswahl ist sie gleich dem Mann frei und ungehindert. Sie freit oder läßt sich freien und schließt den Bund aus keiner anderen Rücksicht als auf ihre Neigung. Dieser Bund ist ein Privatvertrag ohne Dazwischentreten eines Funktionärs, wie die Ehe bis ins Mittelalter ein Privatvertrag war. Der Sozialismus schafft hier nichts Neues, er stellt auf höherer Kulturstufe und unter neuen gesellschaftlichen Formen nur wieder her, was, ehe das Privateigentum die Gesellschaft beherrschte, allgemein in Geltung war.

        Der Mensch soll unter der Voraussetzung, daß die Befriedigung seiner Triebe keinem anderen Schaden oder Nachteil zufügt, über sich selbst befinden. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist ebenso jedes einzelnen persönliche Sache wie die Befriedigung jedes anderen Naturtriebs. Niemand hat darüber einem anderen Rechenschaft zu geben und kein Unberufener hat sich einzumischen. Wie ich esse, wie ich trinke. wie ich schlafe und mich kleide, ist meine persönliche Angelegenheit, ebenso mein Verkehr mit der Person eines anderen Geschlechts. Einsicht und Bildung, volle Unabhängigkeit der Person, alles Eigenschaften, die durch die Erziehung und die Verhältnisse in der künftigen Gesellschaft naturgemäße sind, werden jeden davor bewahren, Handlungen zu begehen, die zu seinem Nachteil gereichen.“

        August Bebel „Die Frau und der Sozialismus“, zuerst veröffentlicht 1879 (erst ab der 9. Auflage in der heute bekannten Form)

        „Ja im Ostblock war das anders. Aber inwiefern ist das hier relevant?“
        Weil es sich um die praktische Umsetzung, also *Vollendung* dieses Programms aus einem Klassiker der Arbeiterbewegung gehandelt hat.
        Die “ juristischen und gesellschaftlichen Hürden“ für Frauen gab es in der DDR nicht mehr und zwar schon vor den 1970ern.

        Die Beweise für eine patriarchale Herrschaft, die Feministinnen bemühten und die ich oben anführte, bezogen sich ausschließlich auf die BRD, nicht aber auf die DDR, wo diese unbekannt waren.
        Was bedeutet, wir müssten von ZWEI verschiedenen Patriarchaten ausgehen, die *zeitgleich* – nur wenige Kilometer voneinander entfernt – tätig waren.
        Ergo davon ausgehen, es hat *kein universell und überhistorisch tätiges Patriarchat* mit identischen Unterdrückungsinstrumenten und Herrschaftsmechanismen gegeben.
        Das wäre aber ein herber Rückschlag für die feministische Theorie.
        Weil sich damit die Frage nach den *historischen und politischen Entstehungsgründen* für ein *spezifische* Entwicklung eines *bestimmten* Patriarchats in einem *bestimmten* Land stellen würde.
        Wie ich oben bereits skizzierte, war dies eine voraussetzungsreiche Antwort im Rahmen einer existierenden Systemkonkurrenz und ohne diese politischen Koordinaten macht eine Antwort keinen Sinn.

        Beziehe ich mich auf das – in einem bestimmten historischen Moment – „emanzipiertere Land“ und schaue auf die Entwicklung in diesem anderen Land, so erscheint dieses (aus dieser Perspektive) als rückständige *Anomalie*.
        Die Option, explizit *diese* Fortschritten *dieser* Gesellschaft einzufordern, wurde jedoch von den Mainstream-Feministinnen nie genutzt, sondern offiziell galten immer die „skandinavischen Staaten“ als Vorbild (die selbstverständlich nur zuuuuuufällig geografisch nahe an der Sowjetunion lagen).

        Den feministischen Revisionismus der Behauptung *gesamtdeutscher Repression von Frauen* findet man nicht ohne ein feministisches Motiv vor. Sondern der feministische Revisionismus soll die kognitive Dissonanz vermeiden helfen, dass die repressiven Maßnahmen auf *einen* deutschen Staat beschränkt waren.
        Damit zur Kompatibilität des feministischen Revisionismus zu dem der herrschenden Klasse: Auch von dieser Seite ist die Verdrängung der Möglichkeit einer alternativen Gesellschaftsform auf deutschem Boden gewünscht.
        Kontrafaktisch wird also die geteilte BRD/DDR-Geschichte als „gesamtdeutsche Geschichte“ umgeschrieben – was fortschrittlich sein muss, denn es pappt das label „Feminismus“ auf dieser Geschichtsschreibung. /sarcasm off

        Das allein erklärt, warum die Frage von Katharina Rutschky noch immer wertvoll ist: „Wie viele radikale Feministinnen fielen unter den Radikalenerlass?“
        https://de.wikipedia.org/wiki/Radikalenerlass
        Die Antwort ist: NULL.
        NIEMAND in der BRD empfand diesen Feminismus als gefährlich, die bekannteste Protagonistin, Alice Schwarzer, wurde mit Bundesverdienstkreuzen und sonstigen Auszeichnungen beworfen. War bestimmt hart.

        Die Behauptung, es hätte sich in den 70ern irgendetwas „vollendet“ und zwar durch das wundersame Wirken „des Feminismus“ ist ein feministisches Märchen.

  4. Mit „spontan ohne Zwang“ meinte ich, dass eine hypothetische Wiederkehr des Patriarchalismus nicht von oben aufgezwungen werden muss (z.B.: „Trump führt das Patriarchat wieder ein“) sondern sich einfach aus der Rollenverteilung heraus ergibt. Die Rollenverteilung selbst ist noch keine Herrschaft, sondern freie Wahl; da gebe ich dir Recht. Wenn sich aber die Rollenverteilung (wie ich vermute) langfristig wieder so stark zementieren wird, dass dadurch (z.B.) Erziehung, Brauchtum und reale Machtverhältnisse entscheidend geprägt werden, nimmt diese Rollenverteilung die Form von patriarchaler Herrschaft an, auch wenn es keine entsprechende Gesetzgebung geben muss. Und diese Herrschaft funktioniert dann letztendlich auch durch Zwang. Aber nicht im Sinne von juristischen Zwang, sondern in Form von sozialen Druck. Das ist in etwa das, was man in vielen modernen islamischen Gesellschaften beobachten kann.

    Dazu möchte ich noch anmeken: Zwang gibt es immer. Die Frage ist nur, wer ihn ausübt. Herkömmlicherweise unterliegt die Frau dem Zwang des Familienvorstandes und der Familienvorsteher selbst unterliegt dem Zwang des Staates, des Feudalherren oder der Kirche etc., die Frau hingegen nicht, oder zumindest weniger.

    1. @Jonas:

      Ich greife jetzt mal nur noch einen Punkt heraus:

      »Wenn sich aber die Rollenverteilung (wie ich vermute) langfristig wieder so stark zementieren wird, dass dadurch (z.B.) Erziehung, Brauchtum und reale Machtverhältnisse entscheidend geprägt werden, nimmt diese Rollenverteilung die Form von patriarchaler Herrschaft an, auch wenn es keine entsprechende Gesetzgebung geben muss. Und diese Herrschaft funktioniert dann letztendlich auch durch Zwang. Aber nicht im Sinne von juristischen Zwang, sondern in Form von sozialen Druck. Das ist in etwa das, was man in vielen modernen islamischen Gesellschaften beobachten kann.«

      Als Prognose finde ich das spannend, auch wenn meine Intuition mir was anderes über die Zukunft sagt. Ich denke schon noch, dass sich unsere individualisierte, bürgerliche Gesetzgebung auf Dauer durchsetzen wird, an dem Punkt bin ich wie Leszek Universalist – jenseits der notorischen Doppelmoral, die der Westen in Bezug auf seine Werte dringend ablegen muss, vertraue ich weiterhin darauf, dass diese Gesetzgebung der anthropologischen Verfassung des Menschen, also potentiell aller Menschen, immer noch am besten gerecht wird.

      Außerdem denke ich, dass die Rollenverteilung sich auch »spontan« in Grenzen halten wird, weil bildungsbedingt mehr Überlappung als Segregation naheliegt. In bezug auf den islamischen Kulturraum hat Emmanuel Todd ja eine eher optimistische Prognose formuliert, die (im Kontrast zu einer verbreiteten Fundamentalismuspanik, die hinter der akuten islamistischen Gewalt auch langfristig den Untergang des Abendlandes heraufziehen sieht) die Angleichungstendenzen an die westliche Gesellschaft herausstreicht.

      1. In bezug auf den islamischen Kulturraum hat Emmanuel Todd ja eine eher optimistische Prognose formuliert, die (im Kontrast zu einer verbreiteten Fundamentalismuspanik, die hinter der akuten islamistischen Gewalt auch langfristig den Untergang des Abendlandes heraufziehen sieht) die Angleichungstendenzen an die westliche Gesellschaft herausstreicht.

        Hast Du dazu einen guten Link?

      2. @uepsilonniks:

        Leszek hat das Buch schon genannt. Online kommt die These in einem englischsprachigen SPIEGEL-Interview zur Sprache. Eine detaillierte Argumentation des ursprünglichen Arguments finde ich online nicht – auf die Grundthese stösst man immer wieder in den Klappentexten von Buchanzeigen, etwa zur englischen Übersetzung von Todd/Courbage oder eines anderen Buches: »The Explanation of Ideology«.

        In Bezug auf Charlie Hebdo hat er sich sehr kontrovers geäußert – die FAZ war nicht amüsiert. Auch in diesem Artikel eines amerikanischen Magazins zu religiösen Themen über Charlie Hebdo kommt er vor: »Gaul Divided«

        Man sollte Todds Thesen sicher nicht blind kaufen, aber er gehört m. E. zu den Autoren, die man kennen sollte, auch wenn man seinen Standpunkt nicht teilt.

      3. „Ich denke schon noch, dass sich unsere individualisierte, bürgerliche Gesetzgebung auf Dauer durchsetzen wird, an dem Punkt bin ich wie Leszek Universalist“

        na von der Gesetzgebung rede ich ja nicht, sondern von den gesellschaftlichen Werten. Ich empfinde die gesellschaftlichen Werte des Westens als kaum im Einklang mit der Natur des Menschen („anthropologischen Verfassung „) stehend und sehe z.B. den Gedanken der Gleichstellung der Geschlechter als typisch westlichen ideologischen Wahn an, mit dem weder Männern noch Frauen ein Gefallen getan wird. Diese Ideologie wird eine ähnliche Halbwertszeit haben, wie die anderen; ein paar Jahre oder Jahrzehnte noch und es wird wieder einen Wertewandel geben.
        Das Projekt der Moderne versucht meines Erachtens weniger eine Befreiung des Menschen, sondern eher die Überwindung des Menschen. Der Feminismus wäre hierfür ein Beispiel; und zwar ein Beispiel für beides. Zwar befreite er die Frau vom Korsett der modernen bürgerlichen Gesellschaft (im weitesten Sinne) aber gleichzeitig versklavt er sie in seiner Ablehnung der Weiblichkeit.
        Des Weiteren warne ich davor, als „Westen“ nur Westeuropa und/oder die Zeit nach 1989 wahrzunehmen. Für mich beginnt die westliche Zivilisation in etwa mit der Aufklärung und schließt im kulturellen Sinne den Ostblock mit ein. Daher birgt die westliche Zivilisation eben auch die größten Grausamkeiten der Menschheit; eben den Versuch, die Menschlichkeit selbst zu überwinden, das heißt seinen Willen und seine Natur soweit zu brechen, dass er ein „Roboter aus Fleisch“ ist.

        „Außerdem denke ich, dass die Rollenverteilung sich auch »spontan« in Grenzen halten wird, weil bildungsbedingt mehr Überlappung als Segregation naheliegt.“

        Ja bisher noch, aber die Frauenbildung bzw. (daraus folgend) eine berufliche Karriere für Frauen als Norm wird in Zukunft in Frage gestellt werden. Eine Gesellschaft, in der die Mutterschaft vernachlässigt wird, wird sich (rein demographisch schon) nicht durchsetzen. Und Karriere und Mutterschaft sind kaum vereinbar.

        „In bezug auf den islamischen Kulturraum hat Emmanuel Todd ja eine eher optimistische Prognose formuliert, die […] Angleichungstendenzen an die westliche Gesellschaft herausstreicht.“

        habe Todd nicht gelesen, werde ich aber bestimmt mal drauf stoßen. Aus meiner bisherigen Erfahrung als angehender Orientwissenschaftler sage ich dir: Nichts hat so großen Schaden angerichtet, wie die Verwestlichung im Nahen Osten. Das ist für mich daher keine optimistische Prognose, sondern das Gegenteil. Und damit beziehe ich mich nicht nur auf den Imperialismus, Irakkrieg Israel etc.. also auf Zwang von außen, sondern ich meine hier den Kulturwandel, der sich politisch und religiös niederschlägt als Nationalismus, Militarismus, Kapitalismus, Fundamentalismus.
        (hierzu empfehle ich:
        Thomas Bauer – Die Kultur der Ambiguität
        Khaled Fahmy – All the Pasha’s men
        oder ganz allgemein Lektüre in die Geschichte der Region ab ca. 1800)

        Was meine Prognose angeht, sage ich, dass die globale kulturelle Hegemonie des Westens, also auch die „unaufhaltsame Revolution“ der Verwestlichung, nicht ewig halten wird. Europa und USA werden in Zukunft zu Recht nicht mehr als strahlende Vorbilder gelten. Die nationalstaatliche Ordnung des Nahen Ostens, die nach europäischen Vorbild aufgebaut wurde, wird nicht überall dauerhaft halten. Die neuen Player werden Russland, Iran, Golfstaaten, Türkei und China. Das wird sich auch wesentlich auf die gesellschaftlichen Werte auswirken. Auch für die nach wie vor intakten Familien- und Stammesstrukturen seh ich eine Chance, dass sie sich durchsetzen. Die Religion des Islam ist flexibel, da sie keine Kirche und kaum ein Dogma kennt; sie wird daher wahrscheinlich ebenfalls erhalten bleiben; hoffentlich nicht nur als prüder Fundamentalismus.

  5. @ uepsilonniks

    „Hast Du dazu einen guten Link?“

    Djadmoros meint wohl dieses Buch hier:

    Emmanuel Todd & Youssef Courbage – Die unaufhaltsame Revolution: Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern, Piper, 2008

    https://www.amazon.de/Die-unaufhaltsame-Revolution-islamische-ver%C3%A4ndern/dp/3492051316/ref=asap_bc?ie=UTF8

    Ich fand das Buch auch sehr interessant.

    (Hatte die letzten Wochen kaum Zeit und bin daher noch nicht dazu gekommen, Djadmoros und Jonas aktuelle Texte vollständig und konzentriert zu lesen, habe mich aber die ganze Zeit drauf gefreut. Morgen habe ich endlich Zeit und werde sie mir alle durchlesen.)

  6. Hier ist noch eine deutschsprachige Version des Spiegel-Interviews mit Emmanuell Todd:

    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-78522341.html

    Ich stimme seiner Modernisierungstheorie grundsätzlich zu. Todd berücksichtigt allerdings bezüglich des islamischen Kulturraums den Faktor der finanziellen Förderung fundamentalistischer religiöser Ideologien z.B. durch die Herrschaftseliten von Saudi-Arabien und Katar zu wenig. Dieser Aspekt bildet leider einen Gegenpol zu den von Todd aufgezeigten positiven Entwicklungen in der islamischen Welt und es ist unklar, wie lange eine kulturelle Modernisierung durch eine solche reaktionäre Politik hinausgezögert werden kann.

    Bezüglich anderer Bücher von Emmanuell Todd (zu den Themen des Status der USA und des Neoliberalismus) gab es in einer Ausgabe der operaistischen, libertär-marxistischen Zeitschrift Wildcat aus dem Jahre 2003 übrigens mal einen Artikel (wiewohl der linksliberale Todd, der sich selbst als empirischen Hegelianer bezeichnet, z.T. sehr andere Positionen vertritt als die Wildcat-Leute), ab S. 29 hier:

    Klicke, um auf w66.pdf zuzugreifen

    Djadmoros schrieb:

    „Man sollte Todds Thesen sicher nicht blind kaufen, aber er gehört m. E. zu den Autoren, die man kennen sollte, auch wenn man seinen Standpunkt nicht teilt.“

    Ja, bei Todd finden sich m.E. interessante, originelle und bedenkenswerte Forschungsbefunde und Theorien einerseits (seine Theorien zur Relevanz bildungspolitischer und demographischer Faktoren für gesellschaftliche Entwicklungen gehören m.E. dazu), aber bei anderen Themen sagt er z.T. auch einiges, das ich kritisch sehe oder für falsch halte, aber auch für mich ist Emmanuell Todd ein wichtiger sozialwissenschaftlicher Autor.

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