Es war mir schon mehrmals aufgefallen, aber spätestens mit der Behauptung von Björk, „Frauen dürfen nicht über Atome singen“, war die Zeit reif für einen Artikel. Wie wird uns Popkultur verkauft? Indem neue Geschichten und Genres präsentiert werden, die so noch nie dagewesen sind? Manchmal – sie sind aber ein hohes Risiko für die jeweilige Industrie, weil man nicht weiß, wie sie einschlagen werden, und ein Großteil der Verwertungsmaschinerie auch darauf ansetzt, die Produkte in bestimmte Schubladen stecken zu können – selbst wenn diese Schubladen sehr weit gefasst sind und nur eine ungefähre Richtung angeben, was man zu erwarten hat.
In einem Großteil der Fälle schwimmt man also mit dem Strom, springt auf den fahrenden Zug auf, bietet „mehr von demselben“ an in der Hoffnung, das Publikum werde auch das konsumieren. Es ist geradezu kurios, dass dabei etwa die Erzählung von der „rebellischen“ Musik und den „alternativen“ Künstlern auch nach Jahrzehnten noch aufrechterhalten werden kann, auch wenn sich diese längst im Einklang mit den Gesetzen des Marktes befinden.
Im Beispiel von Björk wurde die neuerliche Marketing-Geschichte schon in den Kommentaren bei Alles Evolution auseinandergenommen. Es stimmt bis ins Detail nichts daran: Sie gewinnt seit Jahrzehnten alle möglichen Preise ( = „die Medien nehmen sie nicht ernst“) und die Alben landeten in den Charts ( = „über solche Themen darf sie nicht singen“).
Ja, warum dann diese Aussage? Beim Berichten über Musik ergibt sich immer das Problem, die Leute für etwas zu interessieren, über das sie erst durch den eigentlichen Konsum entscheiden können. Also müssen irgendwelche Ersatzmittel her: Fotos, Persönliches, Details zur Entstehung… am Ende muss das Thema „Dieses Album ist etwas ganz Besonderes, weil…“ bedient werden. Das allein schin deswegen, weil ja auch Leute abseits der unbedingten Fans angesprochen werden sollen, inklusive denjenigen, die mit den früheren Werken des Künstlers wenig oder nichts anfangen konnten. „Björk hat mal wieder ein Album draußen“ klingt eben weniger spektakulär als „Auf dem neuen Album kann sie zum ersten Mal…“.
Kommen wir nun zu der risikoaversen Industrie zurück. Opfergeschichten verkaufen sich derzeit einfach gut, deswegen bekommen wir soviele von ihnen aufgetischt. Und Leute, die länger im Geschäft sind, ändern ihre Geschichte rückblickend entsprechend. Wie crumar in der Diskussion anlässlich des Todes von Carrie Fisher bemerkte:
Du solltest in Betracht ziehen, dass auch Carrie Fisher ihre Erinnerungen ein wenig „frisiert“ haben könnte, um für ein aktuelles Publikum attraktiv zu sein.
Sie nimmt ein bestehendes, feministisches Narrativ für ihre Aussage, um ihre Erinnerung „sozial erwünscht“ darzustellen.
Aber auch Madonna (ein Beispiel wird in den Kommentaren zum Björk-Artikel erwähnt): Früher war sie eine Frau, die selbstbewusst mit ihrer Sexualität umging und „ihr Ding durchzog“. Heute ist auch für sie alles ganz schrecklich und sie, nach Jahrzehnten des Erfolgs, das arme Opfer. Vom Vorreiter zum Mitheuler.
Oder Lady Gaga (Beispiel von Gerhard gefunden), die sich über die harte Musikindustrie beklagt, in der sie wegen ihrer Intelligenz, nicht wegen ihres Körpers wahrgenommen werden wolle. Während man ihren Liedern Ähnlichkeiten zu denen anderer Künstler nachsagte – sooo neu waren die Ideen dann auch nicht – ist sie vor allem für ihre Outfits bekannt geworden (ein Kleid aus Fleisch etwa); übrigens wie seinzerzeit vor ihr Madonna. Sie hat den Startbonus als Frau voll ausgespielt und sich gut über ihr Äußeres vermarktet.
Die Platte „Ich werde nicht ernst genommen / auf mein Äußeres reduziert / nicht ernst genommen, weil mein Äußeres nicht konform genug ist / muss immer gut aussehen“ läuft einfach sehr gut. Ich erinnere mich an Portraits von Caro Emerald und Lily allen in verschiedenen Ausgaben eines Bordmagazins. Bei Lily Allen war es diese bescheuerte Mischung aus „wir zählen noch einmal auf, was sie alles mit ihrem Äußeren gemacht hat – sooo mutig!“ und „viele Leute sind blöd und gucken aufs Äußere“, bei Caro Emerald „sie ist ja nicht absolut schlank; schrecklich, dass Leute das so wichtig nehmen und darauf herumreiten!“. (Bei Männern gibt es aber auch haarsträubende Erzählungen… Xavier Naidoo, der nette Millionär von nebenan, der so erfolgreich ist und trotzdem ganz normal geblieben etc.)
Bei den Frauen, die ihre Karriere mit vollem Körper- und Klamotteneinsatz vorangebracht haben, spielt vielleicht ein Aspekt eine Rolle: Sie dürfen (in den Augen anderer Frauen!) „nicht billig wirken“; es muss so rüberkommen, dass sie nicht zu sehr „nach den Regeln gespielt“ haben, denn das raubt das Rebellenhafte. Also entweder die populäre Erzählung aus den 1990ern, sie würden selbstbewusst mit ihrem Körper umgehen, oder die neuerdings beliebtere Variante, sie hätten das ja tun müssen.
Unter dem Björk-Artikel kommentierte crumar noch:
Ich habe diesen Vorgang für mich „feministischer Ausredenkalender“ getauft.
Jeden Tag eine neue Ausrede, warum man partout *nicht* durch *eigenes* handeln oder nicht handeln sich in der Situation befindet, in der man sich eben befindet.Wobei der Feminismus nur eine weibliche *Nachfrage* bedient, die wesentlich früher da war und bspw. durch Religion bedient worden ist.
Es ist auffällig, dass abstrakte Wesenheiten, wie z.B. „*der* Sexismus in der Musikindustrie“ nahtlos in das Wirken „Satans in der Musikindustrie“ übersetzt werden können.
Und später:
Der wichtigste Nachteil an dieser Haltung ist nach meiner Meinung, es handelt sich um die selbst verschuldete Blockade eines normalen Lernprozesses, in dem man den objektiven Ursachen für seine individuellen Fehler, die zum scheitern geführt haben auf die Spur kommt und daran arbeitet, diese abzustellen und nicht zu wiederholen.
(Beide Kommentare sind in Gänze lesenswert.)
Christian Schmidt schlägt vor, die Elemente dieses Auredenkalenders mal zu sammeln. Eine gute Idee, findet crumar, und auch mir gefällt der Vorschlag.
Popkultur
Was wäre ein Blogeintrag ohne Popkultur? Frauen haben schon längst über Moleküle gesunden… (Danke, Mycroft!)
MIA.: Tanz der Moleküle