Gastartikel: Leszek über Kulturmarxismus

Bei man tau kam in der Diskussion mal wieder das Stichwort „Kulturmarxismus“ auf. Um zu diesem leidigen Thema hier im Blog einen zentralen Referenzartikel zu schaffen, greife ich tatsächlich den Vorschlag von djadmoros auf und fasse zwei Kommentare von Leszek zu einem Gastartikel zusammen. Sie standen ursprünglich unter dem Kulturmarxismus-Artikel bei Alles Evolution.

1. Kommentar

„Kulturmarxismus“ ist ein Schlagwort der US-amerikanischen Rechten, dessen eigentlicher wesentlicher Bezugspunkt gar keine Marxisten/Neo-Marxisten sind, sondern die in den USA entstandenen Varianten des Poststrukturalismus wie Gender/Queer/Critical Whiteness/postmoderner Multikulturalismus.

Der Begriff „Kulturmarxismus“ hat lediglich eine diskursstrategische Funktion, indem die US-amerikanische postmoderne/poststrukturalistische Linke als marxistisch geframed werden soll, um leichter gegen sie in Kreisen antikommunistisch sozialisierter Konservativer agitieren und mobilisieren zu können. Marxistische Verschwörungen zu erfinden, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren, hat in den USA unter Konservativen/Rechten Tradition und in diesem Zusammenhang ist dieser Begriff zu verstehen.

Dazu wurde eine falsche ideengeschichtliche Herleitung des US-amerikanischen Poststrukturalismus und der Political Correctness aus dem Neo-Marxismus in der Tradition des Freudomarxismus konstruiert (Frankfurter Schule, Wilhelm Reich).
Das ist ideengeschichtlich allerdings Unsinn, denn die US-amerikanischen Varianten des Poststrukturalismus sind in Wahrheit aus einer einseitigen und rigiden US-amerikanischen Rezeption und Interpretation des französischen Poststrukturalismus hervorgegangen, (die sich aber vom ursprünglichen französischen Poststrukturalismus deutlich unterscheidet) und haben mit der Frankfurter Schule oder Wilhelm Reich nichts zu tun.

Alan Riding: Correcting Her Idea of Politically Correct

„Wer das Gegenteil darlegen will, der muss einen Beweis dafür bringen, dass die anderen Theorien nur Mittel zum Zweck sind.“

Er müsste überhaupt erst einmal belegen, dass Neo-Marxisten in der Tradition der Kritischen Theorie oder Wilhelm Reichs (die heutzutage im Sinne einer großen und geschlossenen linken Strömung ohnehin nicht mehr existieren), die behaupteten Positionen vertreten. Das ist ja in der Regel nicht der Fall, denn hier wird ja so vorgegangen, dass zwei ganz unterschiedliche und miteinander konkurrierende linke Traditionen zusammengeworfen werden, die sich in ihren theoretischen Grundlagen und Strategien gravierend unterscheiden.

Neo-Marxisten in der Tradition der Kritischen Theorie oder Wilhelm Reichs sind in der Regel keine Poststrukturalisten. Anhänger des Poststrukturalismus sind in der Regel keine Neo-Marxisten/Freudo-Marxisten. Natürlich kann es im Einzelfall auch mal Personen geben, die sich für beides interessieren und an beides anknüpfen, aber grundsätzlich sind das verschiedene philosophische und politische Strömungen.

Weil Anhänger der US-amerikanischen Varianten des Poststrukturalismus nun als marxistisch geframed werden soll, kommt es zu unsinnigen Aussagen wie: „Kulturmarxisten“ haben ein Feindbild „weißer, heterosexueller Mann“ oder „Kulturmarxisten“ sind Kulturrelativisten/Multikulturalisten und ähnliches.

In Wahrheit vertreten Anhänger des Neo-Marxismus in der Tradition des Freudo-Marxismus kein Feindbild „weißer, heterosexueller Mann“ und sind im Allgemeinen auch keine Multikulturalisten. Das PC-Feindbild „weißer, heterosexueller Mann“ wird – nicht von allen, aber von den radikaleren – Anhängern der in den USA entstandenen Varianten des Poststrukturalismus vertreten und auch der US-amerikanische kulturrelativistische Multikulturalismus ist in diesem US-amerikanischen poststrukturalistischen ideengeschichtlichen und theoretischen Kontext entstanden.

Das ständige Zusammenwerfen zweier unterschiedlicher linker Theorietraditionen, bei der man nun der einen ständig Dinge unterstellt, die diese gar nicht vertritt, macht für Anhänger dieser konservativen/rechten Verschwörungstheorie nun natürlich jede ersthafte wissenschaftliche Diskussion unmöglich, denn die ganzen falschen Aussagen können ja nicht wissenschaftlich belegt werden.

Das ist aber auch nicht Sinn der Sache, es handelt sich wie gesagt um konservative/rechte Propagandalügen, Selbstaufwertungs- und Gegnerdämonisierungsstrategien – was ich als Political Correctness von rechts bezeichne.

Manche anderen Dinge, die da behauptet und unterstellt werden, sind sogar frei erfunden und werden weder von Neo-Marxisten in der Tradition des Freudo-Marxismus, noch von Anhängern des US-amerikanischen Poststrukturalismus vertreten.

Es ist also nicht verwunderlich, dass Anhänger dieser konservativen/rechten Verschwörungstheorie keine überzeugenden Argumente oder wissenschaftlichen Belege für ihre Behauptungen angeben können, sondern es stets beim Behaupten bleibt.

Der Begriff „Kulturmarxist“ erfüllt in diesem konservativen/rechten Diskurs eine ähnliche Funktion wie die Begriffe „Faschist“, „rechts“ etc. bei extremen linken PC-Fanatikern. Es wird einfach inflationär und undifferenziert alles und jeder damit bezeichnet, der von den eigenen Auffassungen zu stark abweicht.

Die konservative/rechte Anti-Kulturmarxismus-Verschwörungstheorie ist also m.E. als ein Beispiel für eine Form von Political Correctness aus dem konservativen/rechten Spektrum zu interpretieren und sollte m.E. in diesem Sinne analysiert werden: als konservative/rechte Diskursstrategie der Selbstaufwertung/Gegnerdämonisierung/Propagandalügen.

2. Kommentar

Ich poste, weil es in diesem Zusammnenhang gut passt an dieser Stelle auch nochmal meinen kürzlichen längeren Beitrag, in dem ich erlärte, warum das PC-Feindbild des „weißen, heterosexuellen Mannes“ seinen Ursprung im US-amerikanischen Poststrukturalismus und nicht im Marxismus/Neo-Marxismus hat:

“Kulturmarxismus” ist ein von der US-amerikanischen Rechten erfundener Unsinnsbegriff, dessen eigentlich intendierter Bezugspunkt keine Marxisten/Neo-Marxisten sind, sondern die spezifisch US-amerikanischen Strömungen der postmodernen/poststrukturalistischen Linken wie Gender Studies/Queer Studies/Critical Whiteness/Multikulturalismus.

Diese haben mit der Frankfurter Schule oder Wilhelm Reich faktisch nichts zu tun, sondern sind aus einer Rezeption des französischen Poststrukturalismus hervorgegangen.

Sie werden von der US-amerikanischen Rechten aber nicht als “Postmoderne Linke” oder “Poststrukturalistische Linke” bezeichnet, sondern als “Kulturmarxisten” und es wird kontrafaktisch ein neo-marxistischer Ursprung konstruiert, einfach weil man sich von dem Begriff “Marxismus” bei stark antikommunistisch sozialisierten Konservativen in den USA eine größere Agitations- und Mobilisierungswirkung verspricht.

Da ein größerer Teil der konservativen Basis in den USA zudem geistes- und sozialwissenschaftlich wenig gebildet ist, kann man ihnen jeden Scheiß erzählen, also werden US-amerikanische postmoderne/poststrukturalistische Linke auf einmal als Neo-Marxisten gelabelt, obwohl sie das weder objektiv, noch subjektiv sind und es wird eine marxistische Verschwörung behauptet, die nicht existiert.

Triviale konservative/rechte Propagandalügen!

Das PC-Feindbild des “weißen, heterosexuellen Mannes” ist – wie bereits mehrfach erwähnt – aus einer US-amerikanischen einseitigen, dogmatischen und radikalisierten Rezeption und Interpretation des französischen Poststrukturalismus hervorgegangen.

Es gibt keine marxistische oder neo-marxistische Strömung/Richtung/Schule, die das PC-Feindbild des “weißen, heterosexuellen Mannes” vertritt und auch mit Herbert Marcuse hat es nichts zu tun.

Im ursprünglichen französischen Poststrukturalismus gab es das PC-Feindbild des “weißen, heterosexuellen Mannes” übrigens auch nicht, erst die extreme Identitätspolitik von in den USA entstandenen Poststrukturalismus-Varianten führte zur Herausbildung dieses PC-Feindbildes.

Das PC-Feindbild des “weißen, heterosexuellen Mannes” wird also vertreten – nicht von allen – aber von den radikaleren Vertretern der in den USA entstandenen Sub-Strömungen des Poststrukturalismus wie Gender/Queer/Critical Whiteness Studies/postmoderner Multikulturalismus.

Diese US-amerikanischen Sub-Strömungen des Poststrukturalismus sind entstanden, als es nach dem Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus (von mir als Staatskapitalismus bezeichnet) zu einer Krise und einem massiven Rückgang sozialistischen, marxistischen und neo-marxistischen Einflusses in der US-amerikanischen akademischen Linken kam.

Sie sind also keinesfalls aus dem Neo-Marxismus heraus entstanden, sondern sind ganz im Gegenteil ein Resultat des Einflussverlusts sozialistischer, marxistischer und neo-marxistischer Strömungen und Theorien in der akademischen Linken in den USA.

Die Lücke, die der Einflussverlust des Sozialismus/Marxismus/Neo-Marxismus in der US-amerikanischen akademischen Linken hinterlassen hatte, wurde nun durch den Poststrukturalismus gefüllt und dieser wurde zum wichtigsten neuen theoretischen Paradigma der US-amerikanischen akademischen Linken.

Die Behauptung, die US-amerikanischen Unterströmungen des Poststrukturalismus seien Anhänger von Herbert Marcuse ist ebenfalls eine konservative/rechte Propagandalüge. Im Allgemeinen ist das Werk von Herbert Marcuse für Anhänger von Gender/Queer/Critical Whiteness Studies/Multikulturalismus irrelevant und sie knüpfen theoretisch nicht daran an.

Dies sei im Folgenden mal wieder belegt.

Zieht man bekannte Einführungswerke zu Gender/Queer/Critical Whiteness etc. heran, Werke, in denen die wirklichen theoretischen und ideengeschichtlichen Grundlagen der entsprechenden Strömungen dargestellt werden, dann lässt sich die tatsächliche Relevanz von Marcuse für die Theoriebildung in diesen Strömungen ziemlich eindeutig ermitteln.

Ich führe daher mal wieder ein paar Einführungswerke zu Critical Whiteness, Gender, Queer etc. auf, die ich besitze und deren Literaturverzeichnis oder Personenregister ich (soweit vorhanden) nach Marcuse durchsucht habe:

Katharina Röggla: Critical Whiteness Studies – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Annamarie Jagose: Queer Theory – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Nina Degele: Gender/Queer Studies – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Andreas Kraß: Queer Denken – enthält ein Personenregister, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Gabriele Winker, Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten – enthält ein Literaturregister, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Therese Frey Steffen: Gender – enthält eine kommentierte Bibliographie, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Hadumond Bußmann & Renate Hof : Genus- Geschlecherforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften – enthält ein Personenregister, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Heinz-Jürgen Voss/Salih Alexander Wolter: Queer und (Anti-)Kapitalismus – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

Renate Kroll (Hrsg.): Metzler Lexikon Gender Studies – kein Eintrag zu Herbert Marcuse. Unter dem Eintrag “Kritische Theorie” wird lediglich erwähnt, dass es mal Feministinnen gab, die sich auf Adornos und Horkheimers “Dialektik der Aufklärung” bezogen haben. Da es sich hierbei um das bekannteste Werk der Frankfurter Schule handelt, wäre es schon rein statistisch unwahrscheinlich, dass es nie eine Feministin gegeben hätte, die sich mal irgendwie darauf bezogen hätte. Von einem nennenswerten Einfluss der Frankfurter Schule auf die Gender Studies ist in dem Eintrag natürlich nicht die Rede, von einem Einfluss von Herbert Marcuse auf die Gender Studies erst Recht nicht.

Luca Di Blasi – Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest – enthält ein Literaturverzeichnis: Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

In den genannten Büchern wird Herbert Marcuse also noch nicht mal am Rande erwähnt, sein Werk ist im Allgemeinen für die Theoriebildung des US-amerikanischen Poststrukturalismus irrelevant.

Herbert Marcuses Werk ist mit dem PC-Feindbild des “weißen, heterosexuellen Mannes” darüber hinaus auch nicht in Einklang zu bringen. Zwar war der SPÄTE Marcuse leider ein Vulgär-Feminist, aber ein Feindbild des “weißen, heterosexuellen Mannes” gab es bei ihm nicht. Im Gegenteil spielten weiße, heterosexuelle Männer in Marcuses Revolutionstheorie durchaus eine Rolle.

Marcuse hatte gehofft, dass die in den 60er und 70er Jahren entstandenen neuen sozialen Bewegungen sowie das US-amerikanische “Lumpenproletariat” die Rolle einer “revolutionären Vorhut” gegen das kapitalistische System übernehmen würden und dann die Arbeiterklasse mitreißen würden.

Zu dieser “revolutionären Vorhut” gehörte für Marcuse auch die Studentenbewegung (an der auch viele weiße, heterosexuelle Männer teilnahmen) sowie, nicht nur das schwarze, sondern auch das weiße US-amerikanische “Lumpenproletariat” zu dem auch viele weiße, heterosexuelle Männer gehörten.

Die ideengeschichtlichen Ursprünge des PC-Feindbildes des “weißen, heterosexuellen Mannes” liegen woandes, wie ich bereits kürzlich in einem Kommentar erklärte, den ich nun einfach nochmal zitiere.

Das PC-Feindbild des „weißen, heterosexuellen Mannes“ hat ideengeschichtlich wie gesagt seinen Ursprung in einer in den USA entstandenen dogmatischen und radikalisierten Übertragung von Konzepten des französischen Poststrukturalismus auf die in den 60er und 70er Jahren entstandenen neuen sozialen Bewegungen, die sich inzwischen längst akademisch institutionaliert hatten.

Eines der Hauptthemen des französischen Poststrukturalismus ist die Analyse und Kritik der Ausschlussfunktion bestimmter Normen. Dieser analytische Ansatz wurde von US-amerikanischen Vertretern des Poststrukturalismus in radikalisierter Form auf die Antidiskriminierungs-Diskurse bzgl. Frauen, Nicht-Weiße und Homosexuelle in den USA übertragen.

Weil Diskriminierungen im Rahmen poststrukturalistischer Theorien oft in einem „Paradigma von Norm und Abweichung“ analysiert werden, führte eine radikalisierte Version dieses Ansatzes zu einer Herausbildung von „Norm-Feindbildern“: männlich, weiß, heterosexuell, cissexuell, westlich.

Hierbei spielte auch noch eine undifferenzierte Übertragung von Jacques Derridas Versuch einer „Dekonstruktion der Metaphysik“ eine Rolle.
Der französische Poststrukturalist Jacques Derrida vertrat die Ansicht, dass die westliche Metaphysik von der Vorstellung hierarchisch gegliederter Dualismen durchzogen sei. Unter „Dekonstruktion der Metaphysik“ verstand Derrida den philosophischen Versuch die hierarchische Gliederung von Dualismen aufzulösen und sie auf eine Ebene von Gleichwertigkeit zu überführen. Dazu entwickelte er eine bestimmte Methode.

Was auf Ebene der Philosophie ein interessantes Projekt sein kann – insbesondere da Derridas Dekonstruktion einen eher spielerischen Charakter hat, frei von dem rigiden Dogmatismus politisch korrekter Fanatiker – das kann problematisch werden, wenn es in einseitiger, undifferenzierter und radikalisierter Weise auf Anti-Diskriminierungsdiskurse übertragen wird, wie es in der US-amerikanischen Poststrukturalismus-Rezeption geschah.

Entsprechend dem poststrukturalistischen „Paradigma von Norm und Abweichung“ als analytischem Ansatz und dem Versuch der Dekonstruktion hierarchisch gegliederter Dualismen, die von Derrida übernommen wurde, führte die Übertragung dieses Ansatzes auf Anti-Diskriminierungsdiskurse in radikalisierter Form dazu, dass eine Reihe von Dualismen zu bedeutsamen analytischen Kategorien wurden:

Norm: weiß, Abweichung: nicht-weiß, insbesondere schwarz
Norm: männlich, Abweichung: weiblich
Norm: heterosexuell, Abweichung: homosexuell
Norm: cissexuell, Abweichung: transsexuell
Norm: westlich, Abweichung: nicht-westlich

Das Verhältnis der beiden jeweiligen Aspekte zueinander wurde also als streng hierarchisch interpretiert. Die „Dekonstruktion“ angewandt auf diese Sichtweise meint nun die Schwächung der jeweiligen Norm-Kategorie und die Stärkung der jeweiligen Abweichungs-Kategorie, so dass eine Gleichwertigkeit der beiden Aspekte entsteht.

Resultat dieser radikalisierten Übertragung von poststrukturalistischen Konzepten auf US-amerikanische Anti-Diskriminierungsdiskurse sind also „Norm-Feindbilder“ (männlich, weiß, heterosexuell, cissexuell, westlich) und im Zusammentreffen dieser Attribute entsteht dann das PC-Feindbild des „weißen, heterosexuellen, cissexuellen, westlichen Mannes“, in dem sich alle diese vermeintlichen Normen treffen.

Das ist der tatsächliche ideengeschichtliche Ursprung des PC-Feindbildes des „weißen, heterosexuellen Mannes“, welches mit marxistischen und neo-marxistischen Theorien und Strömungen nichts zu tun hat und von diesen auch nicht vertreten wird.

Anhänger dieser Perspektive des US-amerikanischen Poststrukturalismus vertreten NICHT die Ansicht, dass eine Schwächung des „weißen, heterosexuellen Mannes“ zu einer Überwindung des Kapitalismus führen könne. Das PC-Feindbild des „weißen, heterosexuellen Mannes“ ist KEINE Strategie zur Überwindung des Kapitalismus, es ist ein Resultat der extremen Identitätspolitik US-amerikanischer Anti-Diskriminierungsdiskurse auf radikalisiert poststrukturalistischer Grundlage – und nur aus diesem Kontext heraus zu verstehen.

Wer es genauer nachlesen will, sei noch einmal verwiesen auf das Buch des Politikwissenschaftlers Mathias Hildebrandt “Multikulturalismus und Political Correctness in den USA”, in dem die ideengeschichtlichen Grundlagen der Political Correctness bei Einhaltung von Standards wissenschaftlichen Arbeitens und mit Belegquellen dargestellt werden.

Mathias Hildebrandt – Multikulturalismus und Political Correctness in den USA

(Die einzige neo-marxistische/sozialistische Strömung, die Hildebrandt in seinem Buch im Zusammenhang mit der Herausbildung des neuen poststrukturalistischen Paradigmas der US-amerikanischen akademischen Linken erwähnt, ist übrigens der strukturalistische Marxismus, gemeint ist offenbar der strukturalistische/poststrukturalistische Marxismus in der Tradition von Althusser, also eine Marxismus-Variante, die selbst schon stark postmodern geprägt ist. Aber selbst dieser postmodernen Marxismus-Variante wird in dem Buch kein großer Einfluss eingeräumt.)

Abschließend…

Wie ich schon drüben bei Lucas Schoppe schrieb:

Man kann es immer noch schöner, wissenschaftlicher, besser belegter machen, aber wer das will, schreibt in der Regel auch keine Blogbeiträge. (Ich bin selbst Perfektionist und kenne das Problem…)

Ich bin auch großer Fan davon, die besten Kommentare noch einmal als eigene Blogeinträge zu veröffentlichen. 1. findet man sie so deutlich leichter selbst wieder, 2. sind sie für neue Leser leicht auffindbar und die Leseschwelle ist geringer (Wer wühlt sich durch Tausende von Kommentaren, um die am besten formulierten 1-2% zu finden? Warum sollte jemand umgekehrt gezielt nach bestimmten Kommentatoren suchen, wenn er noch niemanden von den Diskutaten einschätzen kann?), 3. zeigt es auch, was die Betreiber eines Blogs selbst als gut und lesenswert einschätzen.

Nachtrag 11.08.:
Luisman ist mit diesem Artikel nicht einverstanden und hat in seinem Blog unter „Immunisierungsstrategie“ eine Kritik geschrieben. Ich empfehle ausdrücklich, auch diese zu lesen! Es soll sich jeder selbst eine Meinung bilden.

Aktualisierung:

Der Artikel hat es am 23.04.2017 in ein Video der Weltraumaffen namens „Pausenclowns der Frankfurter Schule“ geschafft! Er wird zwar nur kurz angesprochen (2:18:25-2:20:27), ebenso wie Luismans Kritik, wird aber sauber und ordentlich in der Quellenliste aufgeführt. Das lob ich mir!

Popkultur

Was wäre ein Blogeintrag ohne Popkultur? Diesmal mit Marx und dem Gefühl, das ich es vielleicht besser hätte wissen müssen, als dieses Thema wieder aufzugreifen…

Richard Marx: Should’ve Known Better

41 Kommentare zu „Gastartikel: Leszek über Kulturmarxismus“

  1. “Nationalsozialismus” ist ein von der deutschen Linken erfundener Unsinnsbegriff, dessen eigentlich intendierter Bezugspunkt keine Sozialisten/Neo-Sozialisten sind, sondern die spezifisch völkischen/konservativen Strömungen der radikalen Rechten wie des Faschismus, der Blut-und-Boden-Ideologie und des Sozialdarwinismus.

    Die Idee, „Kulturmarxismus“ müsste geschitchtlich auf „Marxismus“ zurückzuführen zu sein, damit das Wort als rechter Kampfbegriff benutzt werden darf, ist schlicht nicht haltbar. Auch die Sozialisten haben versucht Nationalsozialismus in Hitlerfaschismus umzubennen um diesem Problem aus dem Weg zu gehen; jedoch scheint es heute kein Problem zu geben, zwei Worte, die einen ähnlichen Stamm haben, inhaltlich auseinander zu halten. Es scheint niemand ernthaft der SPD die Schuld am Nationalsozailismus geben zu wollen oder zu behaupten, dass diese beiden Elemente zusammenhängen, weil sie ähnlich klingen. Da in amerikanischen Kreisen die Unterscheidung zwischen Socialist,Communist und Marxist sowieso nicht wirklich gemacht wird (i.e. für Amerikaner sind das alles Synonyme für Bosheit, Tod und Verderben), ist es linker, pedantischer Unsinn eine Neuformulierung für ein Wort zu finden, weil sich Neomarxisten durch die Nähe zum „Kulturmarxismus“ benachteiligt fühlen, um so mehr, weil Neomarxisten/Marxisten politisch weder in Amerika noch in Europa überhaupt eine nennenswerte Rolle spielen.

    Das ist vor allem darum der Fall, weil die Kritikpunkte am „Kulturmarxismus“ der Rechten unabhängig von der Bezeichnung die gleichen sein werden, genau wie linke Anhänger der political Correctness Rassismus wahllos gegen alle rechten Strömungen einsetzten. Die Vorwürfe der amerikanischen Rechten, die unter dem Label „Kulturmarxismus“ zusammengefasst werden, betreffen eben auch Neomarxisten, Marxisten, Sozialisten und allgemein linke Positionen, genau weil sie so diffus sind. Dem entgeht man sicherlich nicht durch eine Umbenennung in einen wissenschaftlich stringenteren Namen. Man könnte wahlweise auch Worte wie „Kulturkommunismus“, „Strukturmarxismus“ oder „Postsozialismus“ benutzen, ohne eine Veränderung der Argumente oder des Inhalts zu erreichen. Wichtig ist für die rechte Diskusstrategie nur, dass ein Begriff verwendet wird, der in Amerika sowieso bereits abgelehnt wird.

    1. @toxicvanguard:

      »«
      »“Nationalsozialismus” ist ein von der deutschen Linken erfundener Unsinnsbegriff …«

      Bitte was??

      Das klingt ja schon fast so bescheuert wie »Die Juden sind an Hitler schuld!«

      Du hast Dich missverständlich ausgedrückt, oder?

      1. Nein, das ist lediglich Leszeks eigene Argumentation auf einen Sozialisten gemünzt, der nicht will, dass Nationalsozialismus das Wort „Sozialismus“ beinhaltet und dies mit der gleichen Begründung ablehnt wie Leszek den „Kulturmarxismus“ ablehnt; nämlich, dass es geschichtlich falsch ist, Sozialismus mit Nationalsozialismus zu verknüpfen, weil Nationalsozialisten keine Sozialisten, sondern Faschisten sind, genau so wie Kulturmarxisten keine Marxisten, sondern Postmodernisten sind. Nach der genau gleichen Logik müsste Leszek also fordern, dass man Nationalsozailismus in „Hitlerfaschmismus“ umbenennt (Was eine zeitlang von Sozialisten gefordert wurde, die Angst um ihre Selbstbezeichnung hatten), weil sonst die geschichtlichen Vererbungslinien durch den Begriff Nationalsozialist nicht richtig wahrgegeben werden.

        Nur ist das in normalen Kreisen schlicht kein Problem, Nationalsozialismus statt Hitlerfaschimus zu nutzen, genauso wie man es sich einrichten kann, „Kulturmarxist“ statt Postmodernist zu nutzen; in beiden Fällen ohne den automatischen Transfer von geschichtlichen Inhalten.

      2. @toxicvanguard:

        Leszek kann aber nicht fordern, die Nationalsozialisten in »Hitlerfaschisten« umzubenennen, weil das ihre Selbstbezeichnung war und sie unter dieser Bezeichnung allgemein bekannt geworden sind. Ebenso verstehen sich die Postmodernisten selbst als »Postmodernisten« und sind ebenfalls als »Postmodernisten« allgemein bekannt – bloß ein paar Ami-Spinner wollen ihnen das Marxisten-Etikett ankleben. Also ist es völlig konsequent, die Nationalsozialisten Nationalsozialisten zu nennen und nicht Hitlerfaschisten, sowie die Postmodernisten Postmodernisten zu nennen und nicht Kulturmarxisten.

        Es sei denn natürlich, man will unbedingt jemanden ärgern.

      3. „Es sei denn natürlich, man will unbedingt jemanden ärgern.“

        Man muss sich meiner Erfahrung nach bei toxicvanguard manchmal fragen, ob er es wirklich nicht ausreichend verstanden hat oder ob er nur trollen will, ich denke aber auch, dass in diesem Fall wohl Letzteres der Fall ist.

      4. @ djadmoros

        Ob das eine Selbstbezeichnung ist, dürfte nach der Argumentation, wie sie ja oben vorliegt, nicht relevant sein; wenn nun also z.B. Leute aus dem Geschlechterverhältnis einen Klassenkampf zusammenbasteln würde ihnen Leszek weiterhin vorwerfen (dieses Gesprächt hatte ich mit ihm schon eimal, weil es tatsächlich einige wenige Marxisten in der Radikalfeministischen Szene gibt, die so argumentieren), dass sie marxistische Praxis nicht verstanden haben, weil „echte“ Marxisten dies als Spaltungsversuch der kapitalistischen Klasse werten müssten – ergo ist es unwichtig, wie die Selbstbezeichnung der Gruppen am Ende lauten, denn nach den Ansprüchen, die weiter oben definiert sind, kann auch die Selbstbezeichnung falsch sein.

        Den Kern der Sache triffst du aber wohl bei der Einschätzung “ bloß ein paar Ami-Spinner wollen ihnen das Marxisten-Etikett ankleben“. Wenn das so wäre, müsste ich dir Recht geben. Nun ist es aber so, dass z.B. ein kleiner Blick z.B. auf Youtube, dass Cultural Marxism kein Nischenprodukt ist, sondern ein Begriff, der von Menschen benutzt wird, die bereits eine Reichweite von einigen Millionen Views haben. Ein ähnliches Bild bietet z.B. Google Trends (Polical Correctness/MGToW/Radical Feminism etc. als Gegenbeispiel)

        https://www.google.ch/trends/explore?date=all&q=Cultural%20Marxism,Neo-Marxism,Political%20Correctness,MGtoW,Radical%20Feminism

        Mit dem Aufstreben der neuen Rechte muss man langsam auch erkennen, dass der Begriff „Kulturmarxismus“ langsam aber sicher in den Mainstream gerutscht ist und nicht länger nur von Verschwörungstheoretikern benutzt wird, ob man das nun will oder nicht. Schon nur deshalb ist die sprachliche Anpassung, wie Leszek sie fordert reine Makulatur.

        Ein ähnliches Thema hatten wir bei AllesEvolution schonmal am Anfang von Gamergate, als der Begriff „Social Justice Warrior“ von Christian mit der üblichen, neuen Konotation benutzt wurde. Da hat Leszek auch gefordert, dass man das nicht brauchen dürfte, weil soziale Gerechtigkeit ein wichtiger Begriff der emanzipatorischen Linken sei und die Umfunktionierung linker Begriffe ein Projekt von rechten Verschwörungstheoretikern sei und zudem handele es sich bei den Personen, die als SJW gebrandmarkt werden um Postmodernisten (sic!) und nicht um Leute, die tatsächlich soziale Gerechtigkeit ansterben. Kurzum, auch dort wurde gesagt SJW sei ein rechter Kampfbegriff, den man in keinem Fall benutzen darf, weil er inhaltlich falsch ist und auch dort hat der Sprachgebrauch der Mehrheit gewonnen.

        Wenn Linke lieber Don Quijote gegen sprachliche Konventionen spielen wollen, anstatt sich damit zu befassen, wie sie selber in dieser beschissenen Position gelandet sind, dann ist das für mich in erster Linie ein Zeichen der kompletten Resignation.

      5. https://allesevolution.wordpress.com/2015/06/22/social-justice-warriors/

        Leszek diskutiert dabei mit Christian, der „SJW“ als Begriff aufgrund der Ironie eigentlich noch okay findet :

        „Also ich lehne den bescheuerten rechten Kampfbegriff „Gutmensch“ ab – aber den bescheuerten Kampfbegriff „Social Justice Warriors“ lehne ich auch ab…

        Es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis „Social Justice Warriors“ nicht nur gegenüber (vulgär-)poststrukturalistischen PC-Spinnern, sondern generell gegenüber Andersdenkenden mit linker Weltsicht als Kampfbegriff verwendet wird…

        Linke PC hat ihren ideengeschichtlichen Ursprung in einer einseitigen, selektiven und dogmatischen US-amerikanischen Rezeption des französischen Poststrukturalismus und beruht gerade nicht auf einer universalistisch-moralischen Grundlage.
        Es ist daher verfehlt ihr den Begriff Gerechtigkeit zuzuweisen…“

        Wiederum, es handelt sich hierbei um einen Kampf um Worte, die gerne in Linken kreisen weiterhin zum Virtue Signalling gebraucht werden sollen und daher im allgemeinen Sprachgebrauch keine negative Konotation kriegen dürfen.

      6. @toxicvanguard:

        In Stichpunkten:

        (1) Ich konstatiere: Du hast tatsächlich eine Privatfehde mit Leszek.

        (2) Aus einem Streit um den taktischen Gebrauch von Begriffen halte ich mich raus, ich kann dem nicht viel abgewinnen, und ich war auch nie ein politischer Aktivist, denen das zumindest nicht völlig gleichgültig sein kann.

        (3) Nehmen wir an, Du hast recht und der Begriff des »Kulturmarxismus« ist mittlerweile Mainstream. Was folgt daraus? Zunächst sagt das noch nichts darüber aus, ob der Begriff inhaltlich etwas taugt oder nicht, ob er einen Sachverhalt angemessen beschreibt oder nicht, ob der Kausalzusammenhang, den er bezeichnet, »verschwörungstheoretisch« ist oder nicht. Auch ein unsinniger Begriff kann als Kampfbegriff eingesetzt werden, andere Begriffe, darunter der Begriff der »Verschwörungstheorie« selbst, sind ambivalent und lassen sich sowohl deskriptiv als auch als Kampfbegriff verwenden.

        (4) Der Begriff des »Kulturmarxismus«, sei er weniger oder sei er mehr verbreitet, bezeichnet eine Verschwörungstheorie (im schlechten Sinne) über den Einfluss von Intellektuellen auf die Kultur. Selbstverständlich haben Intellektuelle nicht keinen Einfluss auf die Kultur, aber welchen genau und worauf, das ist Gegenstand der Ideengeschichte und Kulturgeschichte. So wird beispielsweise der Einfluss der neoliberalen Intellektuellen beispielsweise in einem Buch wie »The Road from Mont Pelerin« beschrieben, der Einfluss der Frankfurter Schule im Klassiker von Rolf Wiggershaus oder die Wirkungsgeschichte des Merve-Verlags bei Philipp Felsch (um nur mal blind in die Kiste zu greifen).

        (5) Grundsätzlich kann man aber sagen, dass Intellektuelle nicht einflussreicher sind als der Resonanzboden, den sie vorfinden, und diesen Resonanzboden stellen sie nicht selbst her, sondern der entsteht aus den historischen Erfahrungen, die die Menschen gerade machen oder gemacht haben. Ein Begriff wie »Kulturmarxismus« will aber keine historischen Kausalzusammenhänge analysieren, sondern personifizierte Schuldige identifizieren, auf die dann publizistisch wirkungsvoll dreingeschlagen werden kann. Insofern hat Leszek recht, wenn er den Begriff auf dieselbe Stufe stellt wie den Glauben an die jüdische Weltverschwörung (oder die der Freimaurer). Der Begriff dient der Konstruktion von Feindbildern, und wenn man Leuten wie Luisman den Knoblauch der Ideengeschichte unter die Nase hält, dann flüchtet er zurück in seine Alt-Right-Filterblase, um nicht zu Staub zu zerfallen. Das Publikum will den Scheiterhaufen beschicken, nicht die Bibliotheksregale.

        Fazit: wenn ein sachlich unbrauchbarer Begriff Mainstream wird, macht ihn das nicht zu einem sachlich brauchbaren. Und das ist mein Bewertungskriterium, nicht der taktische Nutzen seines Gebrauchs.

    2. Zur Kritik am Begriff „Social Justice Warriors“ siehe auch den folgenden Artikel auf Geschlechterallerlei:

      https://geschlechterallerlei.wordpress.com/2015/08/03/fundstueck-blogblume-gegen-den-begriff-social-justice-warrior/

      Das, toxicvanguard, lässt sich aber nicht mit der Notwendigkeit der Kritik an der rechten Anti-Kulturmarxismus-Ideologie gleichsetzen, denn auch wenn ich „Social Justice Warriors“ für eine schlechte Begriffswahl halte, beinhaltet „Social Justice Warriors“ keine in politikwissenschaftlicher Hinsicht falsche Zuordnung und es hängt erst Recht keine irrationale menschenfeindliche rechte Verschwörungstheorie daran, wie bei dem rechten Kampfbegriff „Kulturmarxismus“. Ohnehin übersiehst du die ganze Zeit, dass der Begriff „Kulturmarxismus“ im Zusammenhang mit einer bestimmten rechten Ideologie und Verschwörungstheorie mit ganz spezifischen Inhalten steht.

  2. Mich würde mal interessieren, in wiefern die amerikanische Aneignung des französischen Poststrukturalismus „einseitig, dogmatisch und radikalisiert“ ist. Ich sehe da eigentlich nur stringente Anwendung der entsprechenden Theorien und denke, Foucault geschieht kein Unrecht, wenn man ihn für die Auswüchse von Critical Whiteness und Genderfeminismus verantwortlich macht.

    Leszek hat sicher recht, wenn er darauf hinweist, dass die Frankfurter Schule von Adorno und Horkheimer für den aktuellen Feminismus usw. praktische keine Bedeutung hat, aber die radikale Ablehnung der westlichen Kultur, der Aufklärung, der wissenschaftlichen Standards findet sich dort auch, und sie hat ihren Einfluss zumindest auf die Deutsche Linke gehabt.

    1. @El_Mocho:

      »aber die radikale Ablehnung der westlichen Kultur, der Aufklärung, der wissenschaftlichen Standards findet sich dort auch«

      Das ist so einfach nicht richtig, schon gar nicht in Verbindung mit der Vokabel »radikal«. Ich stimme Dir insoweit zu, dass die Kritische Theorie ein verkürztes Verständnis der Naturwissenschaften entwickelt hat, das man auch noch bei Habermas findet.

      Aber das ist nicht gleichbedeutend mit einer »Ablehnung wissenschaftlicher Standards« und schon gar nicht der Aufklärung als solcher. Sondern Adorno und Horkheimer wenden ein, und zwar zu Recht, dass man Aufklärung nicht auf naturwissenschaftliche Methodik einschrumpfen darf – das ist der Gehalt ihres Positivismusvorwurfs. Sie verteidigen die Aufklärung gegen ihre Verkürzung auf »instrumentelle Vernunft«.

      Sie sind skeptisch in Bezug auf einen Fortschrittsoptimismus, der glaubt, aus dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt würde sich die zivilisierte Menschheit sozusagen automatisch ableiten lassen. Diese Kritik lässt sich zudem nicht nur auf den Westen, sondern auch sehr gut auf die Technikgläubigkeit des Sowjetkommunismus anwenden.

      Der Vorwurf der Kritischen Theorie ist ein Technokratievorwurf, der sich gegen eine unangemessene Übertragung naturwissenschaftlicher Ansätze auf den Bereich der Gesellschaft richtet, und darum auch mittelbar nicht gegen die »westliche Kultur«, sondern gegen die Verwandlung der westlichen Kultur in »Kulturindustrie«.

      Auch wenn der Pessimist Adorno da vieles sehr düster gesehen hat, kann man daraus schlechterdings keinen Vorwurf ableiten, sie würden westliche Kultur, Wissenschaft und Aufklärung insgesamt ablehnen.

      1. „Sie verteidigen die Aufklärung gegen ihre Verkürzung auf »instrumentelle Vernunft«.

        Was bedeutet das denn konkret? Und wer hat die Aufklärung in diesem Sinne verkürzt?

      2. @Adrian:

        »Was bedeutet das denn konkret? Und wer hat die Aufklärung in diesem Sinne verkürzt?«

        »Instrumentell« ist jeder Vernunftgebrauch, der Kausalzusammenhänge im Sinne von Naturgesetzlichkeiten zu beschreiben versucht. Das ist in Naturwissenschaft und Technik natürlich unerlässlich, aber in Bezug auf andere Erkenntnisgegenstände oft fragwürdig oder unsinnig.

        Im Bereich sozialwissenschaftlicher Theorien betrifft dies den schon im 19. Jahrhundert vorkommenden Anspruch, man könne Gesellschaft im Sinne einer »Sozialphysik« beschreiben, die ausschließlich mit strikt naturwissenschaftlichen Methoden vorgehen könne. In diesem Sinne hat Auguste Comte den Begriff des »Positivismus« eingeführt. Im 20. Jahrhundert gehen der Sozialbehaviorismus und die frühe Soziobiologie stark in diese Richtung.

        Im politischen Bereich betrifft das mehr oder weniger alle Ideen, man könne eine Gesellschaft durch eine Herrschaft der »Experten« (vorzugsweise Ingenieure) lenken, deren Vorsprung in naturwissenschaftlich-technischem Wissen sie grundsätzlich dem »Normalbürger« überlegen mache, der sich ihrer Leitung unterzuordnen habe. In (West-)Deutschland hat zum Beispiel Helmut Schelsky solche Ideen vertreten, in den USA Thorstein Veblen.

      3. @Adrian:

        »Heißt was?«

        Heißt, dass ich – wie von Dir gewünscht – ein Beispiel für meinen Einspruch gegen El_Mochos Behauptung nachgeliefert habe.

      4. Das ist doch alles nur Gerede. Was soll Vernunft denn anderes sein als ein Instrument? Dazu ist sie schließlich entstanden, um den Menschen beim Überleben zu helfen. Vernunft kann uns zeigen, wie wir ein bestimmtes Ziel erreichen; Ziele selber kann sie nicht vorgeben. Genau das unterstellen Adorno und Horkheimer aber, dass es eine höhere Vernunft gäbe, die es ermöglicht, objektiv richtige Ziele für alle zu erkennen. Und natürlich wird das nirgendwo konkretisiert, klar wird nur soviel, dass bloße Logik und empirische Forschung nicht dazu führen können, aber hegelsche Dialektik weist (irgendwie) den Weg dahin, wie auch immer.

        Überzeugt mich nicht.

      5. @El_Mocho:

        »Was soll Vernunft denn anderes sein als ein Instrument? Dazu ist sie schließlich entstanden, um den Menschen beim Überleben zu helfen.«

        Was der Begriff bedeuten soll und in welchem Kontext er sinnvoll ist, habe ich bereits in Antwort auf Adrian erläutert.

        »Genau das unterstellen Adorno und Horkheimer aber, dass es eine höhere Vernunft gäbe, die es ermöglicht, objektiv richtige Ziele für alle zu erkennen.«

        Ich weiß nicht, wo Du das rausliest. Was sie sagen ist, dass man für die adäquate Bearbeitung mancher Probleme das Ganze der Gesellschaft, ihre »Totalität« berücksichtigen muss. »Objektiv richtige Ziele für alle« zu definieren beansprucht vielleicht der Vulgärmaterialismus der Parteikommunisten, aber nicht die Kritische Theorie.

        »Und natürlich wird das nirgendwo konkretisiert, klar wird nur soviel, dass bloße Logik und empirische Forschung nicht dazu führen können, aber hegelsche Dialektik weist (irgendwie) den Weg dahin, wie auch immer.«

        Das ist doch Quark! Als ob das Institut für Sozialforschung nicht auch konkret empirisch geforscht hätte!

        »Überzeugt mich nicht.«

        Du rührst Dir ja auch eine halbgare Privatmischung an, in der alles mögliche drin ist, aber Kritische Theorie nur in homöopathischer Dosis.

      6. „»Instrumentell« ist jeder Vernunftgebrauch, der Kausalzusammenhänge im Sinne von Naturgesetzlichkeiten zu beschreiben versucht. Das ist in Naturwissenschaft und Technik natürlich unerlässlich, aber in Bezug auf andere Erkenntnisgegenstände oft fragwürdig oder unsinnig.“

        Ich bin zwar nur ein armer kleiner MINTler unter all den Philosophen hier 😉 aber daß man die Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften – also praktisch den Falsifikationismus – nicht auf andere Wissenschaften übertragen kann, ist mir ziemlich schnell klargeworden. Für mich selber war dabei besonders hilfreich die Erkenntnis, daß Wissen in den Naturwissenschaften stets Modelle a la Stachowiak sind und daß diese Modelle ziemlich einschränkende Annahmen einhalten müssen, ohne die der Falsifikationismus nicht als Wissenschaftstheorie nutzbar ist.

        Soziale Systeme sind generell zu komplex, um noch Modelle bilden zu können, die die oben erwähnten Anforderungen erfüllen. Deshalb scheitern auch die Sozialingenieure und Expertokratien regelmäßig,

        Kurz gesagt: djadmoros hat recht 😉

    2. @ El_Mocho

      „Mich würde mal interessieren, in wiefern die amerikanische Aneignung des französischen Poststrukturalismus „einseitig, dogmatisch und radikalisiert“ ist.“

      Es wurden solche Aspekte des ursprünglichen französischen Poststrukturalismus, die der postmodernen Political Correctness tendenziell zuwiderlaufen, bei der US-amerikanischen Rezeption des französischen Poststrukturalismus weitgehend oder vollständig ignoriert.

      Einige Beispiele:

      – Jean-François Lyotard z.B. hatte nach anfänglichen relativistischen Verirrungen in seiner Theorie von den miteinander inkommensurablen Diskursarten, die sich angeblich nicht gegenseitig kritisieren könnten, weil sie Sprachspielen angehörten, die verschiedenen Regeln folgen, dann selbst die Menschenrechte als absolute Grenze eingesetzt, über die sich die verschiedenen Diskursarten nicht hinwegsetzen dürften, Lyotard hat also durchaus versucht eine Sicherung gegen moralrelativistische Interpretationen einzubauen.

      – Michel Foucault hatte sich in seiner Spätphase im Rahmen seiner Pastoralmachttheorie einerseits mit manipulativen Machttechniken, die durchaus ähnlich funktionieren wie die Versuche Politischer Korrekter irrationale Über-Ich-Funktionen herzustellen, kritisch auseinandergesetzt, andererseits hatte er im Rahmen seiner Gouvernementalitäts-Studien eine neue Subjekttheorie entworfen, die sich kritisch mit der Subjektkonstitution unter den Bedingungen des Neoliberalismus beschäftigt und die sich stark von den Vorstellungen zur Subjektkonstitution unterscheidet, die die Gender-Feministinnen aus Foucaults früheren Werken abgeleitet haben.

      – Jaques Derrida hatte versucht moralrelativistischen Interpretationen seiner Philosophie der Dekonstruktion vorzubeugen, in dem er bestimmte Begriffe und Werte der Dekonstruktion ausdrücklich entzogen hat.

      – Bei Julia Kristeva gibt es eine starke Betonung des Wertes der individuellen Souveränität, die in der US-amerikanischen Rezeption übersehen wurde. Darüber hat sie sich sehr aufgeregt, sie lehnt Identitätspolitik entschieden ab:

      Now, however, at age 60, Ms. Kristeva is bringing a new twist to this bizarre trans-Atlantic to-and-fro. She feels she has been misunderstood in the United States by the very circles that have embraced her as an icon of feminism and multiculturalism. “Many of our American colleagues have taken what we proposed and have simplified it, caricatured it and made it politically correct,“ she said. “I can no longer recognize myself.“
      (…)
      Today, however, Ms. Kristeva believes that the group identity adopted by some feminist, gay and ethnic leaders as a pedestal for their revindications is outdated and even, in her word, “totalitarian,“ that freedom of the individual should take precedence over communitarianism, that political assertion of sexual, ethnic and religious identities eventually erodes democracy.
      (…)
      As a psychoanalyst, of course, Ms. Kristeva can only address individual needs, but that is where she sees the drama of contemporary society unfolding. “What is important is not to affirm the power and identity of groups, but to increase the freedom of individuals,“ she insisted. “To assume a group identity is a dead end. And if some people have interpreted French thinking to mean they should, they are totally wrong.“

      Es gibt übrigens von der Feministin Tove Soiland einige interessante Texte zu Fehlern und Einseitigkeiten in der US-amerikanischen Poststrukturalismus-Rezeption. Tove Soiland ist Feministin in der Tradition des Differenzfeminismus der französischen poststrukturalistischen Feministin Luce Irigaray und kritisiert aus dieser Perspektive den poststrukturalistischen Gender-Feminismus (sozusagen poststrukturalistischer Differenzfeminismus gegen poststrukturalistischen Gleichheitsfeminismus). Den poststrukturalistischen Differenzfeminismus in der Tradition von Luce Irigaray lehne ich genauso ab wie den Gender-Feminismus, aber ich schätze Tove Soiland sehr als Poststrukturalismus-Expertin.

      Der Feminismus von Tove Soiland ist leider mit integral-antisexistischen Perspektiven nicht vereinbar, bewegt sich innerhalb dessen, was ich als „Paradigma des Radikalfeminismus“ bezeichne und hat keinerlei Sensibilität für männliche Diskriminierungen und sozialen Problemlagen. Sie macht dem Feminismus Judith Butlers in einer Textpassage sogar quasi einen Vorwurf, er sei tendenziell zu männerfreundlich, Tove Soilands Feminismus-Verständnis kann man aus links-maskulistischer und integral-antisexistischer Perspektive also leider nicht viel Positives abgewinnen.

      Anders sieht es aus, wenn es um Tove Soilands Reflektionen zu Unterschieden zwischen dem ursprünglichen französischen Poststrukturalismus und dem späteren US-amerikanischen Poststrukturalismus sowie um Tove Soilands marxistisch fundierte Kritik am Gender-Feminismus geht. Diese gehören mit zum Besten, was ich bisher zu diesen Themen gelesen habe. U.a. geht sie in mehreren Texten ausführlich auf Einseitigkeiten und Fehler bei der US-amerikanischen Rezeption von Foucault und Lacan ein. Zwei Texte von ihr dazu seien an dieser Stelle verlinkt, falls du dich genauer damit beschäftigen möchtest:

      Klicke, um auf Soiland.pdf zuzugreifen

      http://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/Kontingente_theoretische_Grundlagen/soiland.pdf?1361541238

      Bezüglich der US-amerikanische Poststrukturalismus-Rezeption ist des Weiteren sehr wichtig, dass dadurch postmoderne Theorien und Identitätspolitik erstmals zusammengebracht und für den US-amerikanischen Kontext eng miteinander verknüpft wurden und eben dies trug stark dazu bei, dass in den USA eine dogmatische und radikalisierte Poststrukturalismus-Variante entstand.

      Hierzu hatte ich ja bereits bei Schoppe eine Passage aus dem lesenswerten Buch des Politikwissenschaftlers Mathias Hildebrandt zur Entstehung von Multikulturalismus und Political Correctness in den USA gepostet. Die Passage sei an dieser Stelle wiederholt, weil sie hinsichtlich der Beantwortung deiner Frage relevant ist:

      „Der transformative Multikulturalismus hat seine Wurzeln in den politischen Erfahrungen der 60er und 70er Jahre, und seine philosophischen Grundlagen speisen sich aus Theorien, die in dieser Zeit entwickelt wurden. Von grundlegender Bedeutung sind dabei das „Black Power Movement“ und das „Ethnic Revitalization Movement“. In beiden Bewegungen wurde zum einen eine grundsätzliche Kritik der europäischen, insbesondere aber der amerikanischen Zivilisation entwickelt. Der Hauptgegner war die Kultur der White-Anglo-Saxon-Protestants (WASPs). Durch die Rezeption euro-afrikanischer Kolonialismustheorien und deren Übertragung auf die US-amerikanische Gesellschaft entstanden die Theorien des „Institutional Racism“ oder der „Structural Oppression“: Sie behaupteten die Unterdrückung all jener Minoritätenkulturen, die nicht zur WASP-Kultur gehören. Diese beiden Formen der Unterdrückungstheorie wurden im Rahmen des sich entwickelnden Multikulturalismus immer stärker mit dem Kulturbegriff der amerikanischen „Cultural Anthropology“ synthetisiert, der gewissermaßen die theoretische Grundlage des multikulturellen Kulturverständnisses lieferte. Ein weiteres wesentliches Ergebnis des „Black Power Movements“ und des „Ethnic Revitalization Movements“ war die Betonung der partikularen Identitäten der Minoritäten und der damit verbundene Aufstieg der „Identity Politics“. Der Multikulturalismus „drew from American identity politics. Its fundamental unit was the identity politics idea that in cultural affairs, the single most important way to classify people is by race, ethnicity, and gender – the kind of thinking that leads us to define one person as white male, someone else as an Asian female, a third person as a Latina lesbian, and so forth“ (Berman 1992b: 13). Unter dem Blickwinkel dieser „Identity Politics“ rezipierten amerikanische Intellektuelle im Laufe der 70erund 80er Jahre im Wesentlichen zwei europäische philosophische Quellen. Zu diesen gehören zum ersten die deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Ludwig Wittgensein; zum zweiten der französische Strukturalismus von Ferdinand de Saussure, Claude Levis-Strauss und Roland Barthes und dem französischen Post- oder Ultrastrukturalismus von Michel Foucault, der Friedrich Nietzsche weiterführte, Jacques Lacan und Jacqes Derrida, deren Denken stark durch Martin Heidegger geprägt waren und der postmodernen Theorie Jean-Francois Lyotards, der stark auf die späte Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins zurückgriff. (…) Diese, in erster Linie europäischen Quellen postmodernen Denkens erhielten bei ihrer Rezeption eine eigentümliche amerikanische Wendung durch die Verbindung mit der „Identity Politics“ und führten zu einer typisch US-amerikanischen Ausbildung des postmodernen Diskurses in Form der „Politics of Difference“ (…). Diese Mischung aus (…) psychologischen und insbesondere postmodernen Theorien ist derart grundlegend für den amerikanischen „Multiculturalism“, das ohne diesen philosophischen Hintergrund die viel gescholtenen Phänomene der „Political Correctness“ gar nicht existieren würden (…).“

      (aus: Mathias Hildebrandt – Multikulturalismus und Political Correctness in den USA, VS Verlag, 2005, S. 93 f.)

    3. @ El_Mocho

      „Leszek hat sicher recht, wenn er darauf hinweist, dass die Frankfurter Schule von Adorno und Horkheimer für den aktuellen Feminismus usw. praktische keine Bedeutung hat, aber die radikale Ablehnung der westlichen Kultur, der Aufklärung, der wissenschaftlichen Standards findet sich dort auch, und sie hat ihren Einfluss zumindest auf die Deutsche Linke gehabt.“

      Dann gehe ich das mal der Reihen nach durch:

      „die radikale Ablehnung der westlichen Kultur“

      Das sehe ich genau gegenteilig. Ich denke, der Adorno-Schüler Albrecht Wellmer hat Recht, wenn er schreibt:

      „Innerhalb der kulturellen Szene der Bundesrepublik war Adorno mehr als ein vielbeachteter Kritiker und philosophischer Kommentator; er war vielmehr derjenige, der an den reaktionär verseuchten Traditionen der deutschen Kultur ihr Authentisches wieder freigelegt und dem Bewusstsein einer moralisch verstörten und in ihrer Identität gebrochenen Nachkriegsgeneration zugänglich gemacht hat. Es ist, als ob alle Anstrengungen dieser von den Nazis vertriebenen Intellektuellen sich darauf gerichtet hätten, den Deutschen ihre kulturelle Identität zu retten: Mit Adorno wurde es in Deutschland wieder möglich, intellektuell, moralisch und ästhetisch gegenwärtig zu sein und doch Kant, Hegel, Bach, Beethoven, Goethe oder Hölderlin nicht zu hassen. Auf diese Weise hat Adorno mehr als andere dazu beigetragen, dem allzu oft apologetisch verwendeten Begriffs eines „anderen Deutschlands“ einen legitimen Sinn zu geben. Seine konservativen Kritiker haben dies bis heute nicht verstanden.“

      (aus: Albrecht Wellmer – Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute, in: Axel Honneth & Albrecht Wellmer – Die Frankfurter Schule und die Folgen, de Gruyter, 1986, S. 26)

      Die Hauptvertreter der ersten Generation der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule waren in einem Ausmaß an die deutsche Hochkultur des 19. Jahrhunderts gebunden und mit jenen deutschen Werken in Philosophie, Musik und Literatur identifiziert und vertraut, die damals als die Höhepunkte der deutschen Kultur galten, wie es heute kaum noch vorstellbar ist. Sie waren in diesem Sinne kulturkonservativ, sahen sich als Träger und Vermittler der deutschen Hochkultur und agierten in diesem Sinne.

      Darüber hinaus gibt es von Marx Horkheimer einen bekannten moralischen Imperativ, der immanente Kritik an der westlichen Kultur (was immanente Kritik bedeutet, wird gleich erklärt) eng mit einer Bereitschaft zur Verteidigung der Errungenschaften der westlichen Zivilisation gegen autoritäre Kräfte verband.
      Bei zeitgenössischen menschenrechtlich orientierten linken Kritikern von Kulturrelativismus/Multikulturalismus und politischem Islam wird dieser moralische Imperativ Horkheimers manchmal zitiert.
      Er lautet:

      „Die sogenannte freie Welt an ihrem eigenen Begriff zu messen, kritisch zu ihr sich verhalten und dennoch zu ihren Ideen zu stehen, sie gegen Faschismus, Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz zu verteidigen, ist Recht und Pflicht jedes Denkenden.“

      „der Aufklärung,“

      Eine wichtige Dimension des Kritikbegriffs der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule ist der Aspekt der „immanenten Kritik“. Immanente Kritik ist eine Form der Kritik, bei der die Kritik an einer Sache nicht anhand von Werten und Prinzipien geleistet wird, die von außen an die zu kritisierende Sache herangetragen werden, sondern ausgehend von den zentralen Werten und Prinzipien der kritisierten Sache selbst.
      Die erste Generation der Frankfurter Schule integrierte verschiedene philosophische Strömungen, u.a. auch die Philosophie Hegels und vertrat ein dialektisches Verständnis von Kritik, bei der Kritik an fortschrittlichen Phänomenen immer nur immanente Kritik sein dürfe.
      Und als fortschrittlich betrachteten die Denker der Frankfurter Schule unter anderem die Aufklärung sowie die menschenrechtlichen Werte und Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft.
      Entsprechend konnte Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für sie immer nur immanente Kritik sein. Adorno erklärt dies folgendermaßen:

      „Wenn man an einem Gebilde Kritik übt, dann kann diese Kritik – und das ist eine populäre Redeweise – entweder transzendente Kritik sein, das heißt, sie kann das Gebilde oder die Realität oder was immer es sei, messen an irgendwelchen Voraussetzungen, die dem Urteilenden zwar festzustehen scheinen, die aber nicht in der Sache sind; oder sie kann immanente Kritik sein, das heißt, sie kann woran Kritik geübt wird, messen an dessen eigenen Voraussetzungen, an seinem eigenen Formgesetz. Der dialektische Weg ist nun immer der, der immanenten Kritik, das heißt, es darf ganz in dem Sinn, den ich Ihnen eben entfaltet habe, nicht etwa an die Sache ein ihr äußerliches Kriterium herangebracht werden, keine „Versicherung“ und kein „bloßer Einfall“, sondern sie muss, um zu sich selber zu kommen, an sich, an ihrem eigenen Begriff gemessen werden. Wenn etwa Marx, um Ihnen ein Beispiel aus der materialistischen Dialektik zu geben, Kritik übt an der kapitalistischen Gesellschaft, dann kann das bei Marx niemals geschehen, indem er ihr eine sogenannte ideale, etwa eine sozialistische Gesellschaft gegenüberhält. Das ist bei Marx an allen Stellen sorgfältig vermieden, genau wie Hegel niemals an irgendeiner Stelle sich dazu hergegeben hat, die Utopie oder die verwirklichte Idee als solche auszumalen. Darüber herrscht in beiden Versionen der Dialektik ein schweres Tabu.“

      (aus: Theodor W. Adorno – Einführung in die Dialektik, Suhrkamp, 2015, S. 50 f.)

      Entsprechend vertrat Adorno folgendes Verständnis der Funktionen seiner Soziologie:

      „Wenn Sie mich fragen, was Soziologie eigentlich sein sollte, dann würde ich sagen, es muss die Einsicht in die Gesellschaft sein, in das Wesentliche der Gesellschaft, Einsicht in das, was ist, aber in einem solchen Sinn, dass diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich „der Fall ist“, wie Wittgenstein gesagt haben würde, an dem mißt, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potentiale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren.“

      (aus: Theodor W. Adorno – Einleitung in die Soziologie, Suhrkamp, 2015, S. 31)

      Das Prinzip der immanenten Kritik ist nun allerdings ein Prinzip der Kritik, das nicht nur von politisch links stehenden Menschen verwendet werden kann, Max Horkheimer wurde ja bekanntlich in seiner Spätphase – leider (in meinen Augen) – konservativ:

      http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45226214.html

      Trotz dieser Hinwendung Horkheimers zum Konservatismus war es für ihn weder nötig auf den Begriff „Kritische Theorie“ zu verzichten, noch die immanente Kritik zu verwerfen, denn – so Horkheimer – immanente Kritik sei auch bestens mit konservativem Denken vereinbar:

      „(…) Schopenhauer stand kritisch zur Welt, aber nicht kritisch im Sinne moderner Revolution, sondern kritisch im Sinne des Konservativen. (…) Er maß – wie sehr viele Konservative – die Welt an den Ideen, zu denen sie sich bekannte, und er fand einen krassen Unterschied; und das bestimmte weitgehend die Kritik, die er an der gesellschaftlichen Realität übte. Ich will jetzt nicht auf seine Metaphysik eingehen, die zwar sehr wichtig ist, sondern darauf hinweisen, dass die konservative Haltung ebenso kritisch sein kann, wenn sie eine wahre konservative Haltung ist, wie die ihr entgegengesetzte revolutionär-marxistische. Von Marx las ich erst nach dem Ersten Weltkrieg etwas, und ich fand manche Ähnlichkeit mit Schopenhauer, denn es schien mir, dass die Marxsche Lehre eigentlich ein Protest dagegen war, dass die Losungen der bürgerlichen Revolution – liberte, egalite, fraternite – in der Welt, die sich zu ihnen bekannte, nur für eine relative kleine Gruppe verwirklicht wurden. Und so kamen für mich diese beiden Denker zusammen.”

      (aus: Max Horkheimer – Verwaltete Welt. Gespräch mit Otmar Herrsche. In: Max Horkheimer – Gesammelte Schriften Band 7, Vorträge und Aufzeichnungen 1949 – 1973, S. 364)

      So wie Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für Adorno und Horkheimer also immer immanente Kritik sein musste, so kam für sie auch hinsichtlich ihrer Kritik an der Aufklärung keine andere Form der Kritik in Frage als die immanente Kritik. Und darum heißt es in der „Dialektik der Aufklärung“ auch direkt am Anfang:

      „Wir hegen keinen Zweifel (…), dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist.“

      (aus: Max Horkheimer & Theodor W. Adorno – Dialektik der Aufklärung, Fischer, 2003, S. 3)

      Adorno und Horkheimer haben das Buch als eine Kritik der Aufklärung vom Standpunkt der Aufklärung verstanden, gerade um einer „Selbstzerstörung der Aufklärung“ entgegenzuwirken:

      „Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“

      (aus: Max Horkheimer & Theodor W. Adorno – Dialektik der Aufklärung, Fischer, 2003,S. 3)

      Und aus eben diesem Grund – weil Kritik an der Aufklärung für die Denker der Kritischen Theorie nur Kritik an der Aufklärung vom Standpunkt der Aufklärung – also immanente Kritik sein konnte, schrieb Adorno hierzu:

      „Wenn aber der kritische Gedanke sich nun des selbst fortgeschrittenen Phänomens bemächtigt, dann bedeutet das nicht, dass man ihm gegenüber die mittlere Menschenvernunft des Vertrauten anruft, sondern es kann nur bedeuten, dass man dann versucht, das Phänomen, mit dessen Insuffizienz (Unzulänglichkeit) man es zu tun hat, dadurch zur Korrektur zu bringen, dass man es dazu anhält, sein eigenes Prinzip immer weiter zu treiben; mit anderen Worten und um es etwas inhaltlicher auszudrücken:
      Wenn man immer wieder auf eine Dialektik der Aufklärung stößt, also auf eine Dialektik der Rationalität derart, dass man feststellen muss, was alles auf dem Weg der Aufklärung, auf der Bahn der Aufklärung an Opfer und Unrecht liegenbleibt, dann kann und darf das nicht bedeuten, dass man hinter diese Aufklärung wieder zurückgeht, dass man irgendwelche Naturschutzparks von Irrationalitäten anlegt, sondern es kann und darf lediglich das bedeuten, dass diese Wundmale, die die Aufklärung hinterlässt, zugleich auch stets die Momente sind, in denen Aufklärung selber als eine noch partielle, als nicht aufgeklärt genug, gewissermaßen sich erweist, und dass nur dadurch, dass man ihr Prinzip konsequent weiterverfolgt, diese Wunden vielleicht geheilt werden können.“

      (aus: Theodor W. Adorno – Einführung in die Dialektik, Suhrkamp, 2015, S. 266)

      So, und nachdem ich nun erklärt habe, was immanente Kritik ist und welche Rolle sie für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule spielt, wird hoffentlich auch der oben bereits zitierte moralische Imperativ Max Horkheimers, der immanente Kritik und Verteidigung der Errungenschaften der westlichen Zivilisation miteinander verbindet in seinen philosophischen Grundlagen verständlicher. Er sei daher – er ist ja nicht allzu lang – an dieser Stelle nochmal kurz zitiert.

      Max Horkheimer:

      „Die sogenannte freie Welt an ihrem eigenen Begriff zu messen, kritisch zu ihr sich verhalten und dennoch zu ihren Ideen zu stehen, sie gegen Faschismus, Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz zu verteidigen, ist Recht und Pflicht jedes Denkenden.“

      „der wissenschaftlichen Standards“

      Die erste Generation der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule waren Pioniere der empirischen Sozialforschung in der Weimarer Republik. Sie gehörten also zu den ersten Sozialwissenschaftlern in Deutschland überhaupt die empirische Sozialforschung betrieben, später im US-amerikanischen Exil bildeten sie sich bezüglich empirischer Sozialforschung weiter – die Sozialwissenschaften in den USA waren diesbezüglich nämlich schon weiterentwickelt als in Deutschland – und nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nach dem 2. Weltkrieg importierten Adorno und Horkheimer also die damals fortschrittlichsten Methoden der empirischen Sozialforschung nach Deutschland und wendeten diese in ihren Untersuchungen am Frankfurter Institut für Sozialforschung an.
      Sie lehnten also keineswegs wissenschaftliche Standards ab.

      Der Unterschied zu denjenigen Sozialwissenschaftlern, die von den Vertretern der Kritischen Theorie leider gerne verallgemeinernd und undifferenziert als „Positivisten“ bezeichnet wurden, lag also nicht daran, dass jene empirische Sozialforschung bejaht hätten und die Vertreter der Kritischen Theorie nicht, empirische Sozialforschung war für die Frankfurter Schule nicht nur selbstverständlich, sie waren diesbezüglich sogar Vorreiter – der wesentliche Unterschied lag vielmehr darin, dass die Vertreter der Kritischen Theorie vehement darauf bestanden, dass empirische Sozialforschung allein zum Verständnis der Gesellschaft nicht ausreiche, dass die Soziologie außerdem der Dialektik als geisteswissenchaftlicher Methode bedürfe.
      Und das begründeten sie auch – durchaus mit interessanten Argumenten. Diesbezüglich kann man anderer Meinung sein oder auch nicht – mit einer Ablehnung wissenschaftlicher Standards hat es nichts zu tun.

      „findet sich dort auch, und sie hat ihren Einfluss zumindest auf die Deutsche Linke gehabt.“

      Tatsächlich war die Kritische Theorie der Frankfurter Schule dafür mitverantwortlich, dass die akademische Rezeption des Poststrukturalismus/Postmodernismus in Deutschland relativ verspätet einsetzte, denn viele Anhänger der Kritischen Theorie lehnten den Poststrukturalismus ab. Von Jürgen Habermas gibt es in seinem Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“ ja eine bekannte Kritik am Poststrukturalismus.

      1. Das ist ja das Tolle an der Philosophie von Adorno und Horkheimer, dass sie es ermöglicht, die Aufklärung und überhaupt die ganze Kultur der westlichen Moderne abzulehnen und sich zugleich zu ihrem eigentlich authentischen Vertreter zu erklären (wobei das natürlich auch alles nur Worte sind und keine stringente Argumentation). Ebenso in der Kunst; Adornos ästhetische Schriften atmen eine tiefe Verachtung ungebildeter Menschen, die Popmusik hören statt Streichquartette und ins Kino gehen statt ins Theater, aber gleichzeitig erklärt man sich zum Vertreter von deren Interessen und zum Verteidiger ihrer Menschlichkeit, die sie durch die kapitalistische Entfremdung verloren haben und die die Frankfurter Autoren aufgrund ihres höheren Wissens durchschauen, ganz im Gegensatz zu den Betroffenen, denen solche Überlegungen einfach am Allerwertesten vorbeigehen(was man dann wiederum als Symptom der Entfremdung verstehen kann).

        Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Adorno und Horkheimer niemals näher mit der Philosophie der Aufklärung beschäftigt haben, wahrscheinlich kennen sie sie nur aus Büchern zur Philosophiegeschichte. Nirgendwo finden sich bei Autoren der Aufklärung die von A. und H. unterstellten totalitären Tendenzen und sie werden auch nicht durch Zitate belegt. Beispiel: Die im Kapitel „Aufklärung und Moral“ behandelten Autoren sind Kant, De Sade und Nietzsche, keiner von ihnen ist ein Aufklärer, und die bedeutenden Moralphilosophen der Aufklärung Hume, Holbach oder Adam Smith kommen (auch sonst im Buch) überhaupt nicht zur Sprache (Hume wird zweimal kurz erwähnt, aber nicht zitiert und nicht näher behandelt). Hier reden einfach Leute von Dingen, die sie nicht kennen.

      2. Und dann erlaube ich mir auch noch mal ein Zitat, und zwar von Leszek Kolakowski aus seiner geschichte des Marxismus. Er bringt die Kritik an der Frankfurter Schule sehr gut auf den Punkt.

        „Allgemein gesprochen, ist der Begriff der »Aufklärung« ein phantastisch zusammengeflickter, unhistorischer Bastard, der sich aus allem zusammensetzt, was die Autoren empört: Positivismus, Logik, deduktive Wissenschaften, empirische Wissenschaften, Kapitalismus, Herrschaft des Gelds, Massenkultur, Liberalismus und Faschismus. Ihre Kulturkritik, so sehr sie auch verschiedene, seit jener Zeit banal gewordene, treffende Bemerkungen über die schädlichen Auswirkungen der Kommerzialisierung der Kunst enthält, ist ganz eindeutig von einer melancholischen Sehnsucht nach einer Zeit erfüllt, als nur eine Elite an der Rezeption der Kunst teilhatte; sie ist ein Angriff auf die »Massengesellschaft« im Geist der feudalen Verachtung für die einfachen Leute. Die »Massengesellschaft« war schon im 19. Jahrhundert Angriffen von den verschiedensten Seiten ausgesetzt – wir kennen diese Kritik aus den Schriften Tocquevilles, Renans, Burckhardts, Nietzsches. Das Neue an der Kritik Horkheimers und Adornos ist, dass diese Angriffe verbunden werden mit einem Angriff auf den Positivismus und die Wissenschaft und dass die Wurzel des Übels – mit Marx – in der Arbeitsteilung und »Verdinglichung« der Welt durch die Herrschaft des Tauschwerts gesucht wird. Doch gehen die Autoren noch weiter als Marx: Nach ihrer Ansicht bestand die Ursünde der »Aufklärung« darin, dass sie das Band des Menschen zur Natur zerriss und die Natur als reines Ausbeutungsobjekt setzte, wodurch auch der Mensch als Teil der natürlichen Ordnung schließlich als Ausbeutungsobjekt aufgefasst wurde. Das ideologische Pendant dieses Prozesses ist eine Wissenschaft, die sich nicht für die Qualitäten der Dinge interessiert, sondern nur für das, was sich an der Welt in quantitativer Form darstellen lässt und sich für technische Eingriffe eignet.

        Das Hauptmotiv dieses Angriffs ist, wie man sieht, ein traditionell romantisches. Die Autoren weisen jedoch keinen Ausweg aus dem Niedergang: Sie sehen keine Möglichkeit, dass der Mensch zur Freundschaft mit der Natur zurückkehrt, sie sagen auch nicht, ob und auf welche Weise die Menschen den Tauschwert liquidieren, das heißt, ohne Geld und Berechnung leben könnten. Der einzige Rat, den sie erteilen, ist das theoretische Denken, wobei wir vermuten dürfen, dass der Hauptvorzug dieses Denkens darin bestehen soll, dass die Despotie der Logik und der Mathematik abgelehnt wird (die Logik ist den Autoren zufolge ein Ausdruck der Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum).

        Es ist bezeichnend, dass die Sozialisten den Kapitalismus einst anprangerten, weil er Elend erzeuge, und die Frankfurter Schule ihn vor allem deshalb anprangert, weil er Reichtum erzeugt und eine große Zahl menschlicher Bedürfnisse befriedigt, dadurch aber die höhere Kultur zerstört.

        In der »Dialektik der Aufklärung« sind bereits alle Elemente der späteren Angriffe Marcuses auf die moderne Philosophie enthalten, die angeblich den Totalitarismus dadurch fördert, dass sie einen positivistischen »Neutralismus« der Wissenschaft gegenüber der Welt der Werte verkündet und die Kontrolle der »Tatsachen« über das menschliche Wissen fordert. Dieser verblüffende Paralogismus – die Beachtung der Forderungen der empirischen Wissenschaft und der Regeln der Logik ist gleichbedeutend mit der Sanktionierung des bestehenden Zustands und der Ablehnung jeglicher Veränderung – zieht sich unverändert durch die gesamte Produktion der Frankfurter Schule. Fasst man den behaupteten Zusammenhang des Positivismus mit gesellschaftlichem Konservativismus oder gar Totalitarismus (die Autoren setzen Konservativismus mit Totalitarismus gleich) als einen historischen auf, so wenden sich alle faktischen Beweise gegen die Kritiker der »Aufklärung«: Seit Hume war die positivistische Philosophie stets mit der liberalen Tradition verbunden. Ein logischer Zusammenhang besteht ganz offensichtlich nicht. Würde daraus, dass die wissenschaftliche Forschung sich zu ihrem Gegenstand >>neutral« verhält und sich der Wertung enthält, folgern, dass sie den bestehenden Zustand stillschweigend gutheißt, so müsste man behaupten, dass physiopathologische Untersuchungen stillschweigend die Krankheit preisen oder davon ausgehen, dass Krankheiten gut und nicht zu bekämpfen seien. Es stimmt, dass zwischen den medizinischen und den Gesellschaftswissenschaften ein wesentlicher Unterschied besteht (obwohl das, was die Frankfurter Schule in dieser Hinsicht über die Wissenschaften sagt, sich auf die gesamte Erkenntnis beziehen soll). Es stimmt, dass in den Gesellschaftswissenschaften die Forschung eine Tätigkeit ist, die dem Forschungsgegenstand selbst angehört, wenn das »umfassende« gesellschaftliche Ganze dieser Gegenstand ist. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass ein Forscher, der sich bemüht, sich wertender Urteile zu enthalten, die Gesellschaft notwendig im Sinne der Stabilisierung oder des Konformismus beeinflusst: Es kann so oder anders sein, aber aus der bloßen Tatsache, dass eine Untersuchung »von außen«, das heißt ohne sogenanntes Engagement, durchgeführt wird, lässt sich diesbezüglich keine Folgerung ziehen. Mehr noch: Eine Forschung, die nicht nur in dem Sinn »engagiert« ist, dass sie überhaupt irgendein praktisches Interesse verfolgt, sondern auch in dem Sinn, dass sie sich selbst als Element einer gewissen praktischen Tätigkeit auffasst, ist gewissermaßen verpflichtet, das für wahr zu halten, was dem Interesse, mit dem der Forscher sich identifiziert, förderlich zu sein scheint, oder anders gesagt, sie muss sich genetischer, pragmatischer Wahrheitskriterien bedienen. Würde ein solches Prinzip anerkannt, dann würde die Wissenschaft im bisherigen Sinn aufhören zu existieren und sich in politische Propaganda verwandeln. Dass in den Gesellschaftswissenschaften auf verschiedenen Wegen unterschiedliche politische Präferenzen und Interessen zu Wort kommen, ist eine unbestrittene Wahrheit; eine Regel aber, die, statt die Minimalisierung dieses Einflusses zu fordern, im Gegenteil seine Verallgemeinerung fordern würde, ließe die Wissenschaft zum willenlosen Werkzeug politischer Interessen werden, wie es mit den Gesellschaftswissenschaften in totalitären Staaten ja auch geschehen ist; theoretische Untersuchungen und theoretische Diskussionen würden ihre Autonomie völlig einbüßen – im Gegensatz zu dem, was die Autoren der Frankfurter Schule für wünschenswert erklären.

        Es stimmt ebenfalls, dass die wissenschaftliche Forschung selbst keine Ziele hervorbringt. Das stimmt auch dann, wenn man annimmt, dass gewisse Werturteile implizit in den Regeln selbst enthalten sind, die besagen, unter welchen Bedingungen gewisse Behauptungen oder Hypothesen ein Bestandteil der Wissenschaft sind. Die Ansprüche an ein wissenschaftliches Verfahren werden natürlich nicht schon dadurch verletzt, dass der Forscher etwas entdecken möchte, was gewissen praktischen Zielen dient, dass seine Interessen von praktischen Überlegungen inspiriert sind. Diese Ansprüche werden dagegen vergewaltigt, wenn man unter dem Vorwand, die Dichotomie von Tatsachen und Werten »überwinden« zu wollen (die Frankfurter Schule und im Übrigen ein beträchtlicher Teil der marxistischen Literatur pocht unablässig darauf, eben diese Dichotomie überwunden zu haben), die wissenschaftliche Wahrheit den Kriterien irgendeines Interesses unterordnet.

        Die Regeln der empirischen Forschung wurden im europäischen Denken, beginnend mit dem späten Mittelalter, in Jahrhunderten entwickelt. Dass die Entstehung dieser Regeln irgendwie mit der Ausbreitung der Warenwirtschaft zusammenhing, ist möglich, wenn auch keineswegs bewiesen, und die Anhänger der »Kritischen Theorie« geben in dieser Frage wie in der Mehrheit der anderen Fragen lediglich haltlose Versicherungen ab, die durch keine historische Analyse gestützt werden. Sollte jedoch tatsächlich ein solcher historischer Zusammenhang bestehen, so folgt daraus noch immer nicht, dass diese Regeln ein Instrument des »Warenfetischismus« sind und die Herrschaft des Kapitals aufrechterhalten; diese letztere Behauptung ist sogar schlichter Unsinn. Die genannten Autoren scheinen zu glauben, dass es, und sei es potentiell, eine andere Wissenschaft gibt, welche den Forderungen der Menschlichkeit gerecht wird, doch können sie nichts über sie sagen. Letzten Endes ist ihre Kritische Theorie weniger eine Theorie als vielmehr ein Lobpreis der Theorie, eine allgemeine Versicherung, dass theoretisches Denken sehr wichtig sei (eine kaum kontroverse These), und eine Forderung, sich zu der bestehenden Gesellschaft kritisch zu verhalten und sie gedanklich zu »transzendieren«. Diese letztere Forderung hätte jedoch nur dann Sinn, wenn sie sagen könnten, wohin genau wir das Bestehende zu transzendieren haben, doch gerade das erfahren wir nicht; diesbezüglich – es muss wiederholt werden – ist der orthodoxe kommunistische Marxismus inhaltlich bestimmter, da er zumindest versichert, dass, wenn erst die Produktionsmittel verstaatlicht sind und die Herrschaft der kommunistischen Partei errichtet ist, nur noch technische Einzelheiten auf dem Wege zum allgemeinen Glück und zur allgemeinen Befreiung zu lösen sind. Diese Empfehlungen wurden zwar durch Erfahrungen völlig widerlegt, haben aber den Vorzug, dass man weiß, um was es bei ihnen geht.

        Die »Dialektik der Aufklärung« und viele andere Werke der Frankfurter Schule enthalten eine ganze Reihe überzeugender Bemerkungen zur Kommerzialisierung der Kunst in den Industriegesellschaften und zur Ärmlichkeit der den Forderungen des Markts unterworfenen künstlerischen Produktion. Die Autoren behaupten jedoch, dass gerade aufgrund dieser Situation sowohl die Kunst insgesamt als auch die Qualität der ästhetischen Erfahrungen, an denen alle Menschen teilhaben können, herabgesunken sei. Diese Behauptung ist indessen überaus zweifelhaft. Wenn es einen solchen Niedergang tatsächlich gegeben hat, muss man annehmen, dass beispielsweise die Dorfbewohner des 18. Jahrhunderts irgendwelche höheren Formen der Kultur genossen haben, um dann durch die Ausbreitung des Kapitalismus dieser Werte beraubt und zur Betrachtung der primitiven Produkte einer vervielfältigten Massenkunst gezwungen zu werden; es ist jedoch nicht sicher, dass die kulturelle Beteiligung von Dorfbewohnern des 18. Jahrhunderts -also die Beteiligung an kirchlichen Zeremonien, Volkstänzen und volkstümlichen Spielen – ihnen höhere Werte vermittelte, als Arbeiter von heute, vor dem Fernseher sitzend, sie erreichen. Die sogenannte »höhere« Kultur ist keineswegs untergegangen, sondern unvergleichlich viel leichter zugänglich geworden als irgendwann zuvor und wird mit Sicherheit von mehr Menschen genossen; dass aber die Umwälzungen, die im 20. Jahrhundert in den Formen dieser Kunst eingetreten sind, sich letzten Endes mit der Herrschaft des Tauschwerts erklären lassen, ist eine wenig überzeugende Behauptung.

        Adorno, der sich in seinen verschiedenen Schriften vielfach zum Niedergang der Kunst geäußert hat, scheint im übrigen der Ansicht zu sein, dass ihre gegenwärtige Lage ausweglos sei, dass also die Kunst nicht wisse, woher sie die Kräfte schöpfen soll, die es ihr erlauben würden, ihrer Berufung gerecht zu werden; auf der einen Seite haben wir die affirmative Kunst, welche die bestehende Kultur akzeptiert und dort Ordnung vortäuscht, wo nur Chaos ist (z. B. Strawinsky), andererseits Versuche des Widerstands gegen die Realität, die jedoch, da sie nicht in der Welt verwurzelt sind, sogar das Genie zum Eskapismus zwingen und es dazu bringen, sich in dem sich selbst genügenden Bereich des eigenen künstlerischen Materials einzuschließen (Schönberg). Die künstlerische Avantgarde ist Negation, aber mehr kann sie, zumindest derzeit, nicht sein; insofern ist sie – anders als die Massenkunst und die affirmative, betrügerische Kunst – die Wahrheit unserer Zeit, allerdings eine düstere Wahrheit, in der sich die Ausweglosigkeit der ganzen Kultur ausdrückt. Das letzte Wort der Kulturtheorie Adornos scheint zu sein, dass er Protest für notwendig und gleichzeitig für ohnmächtig hält. Eine Rückkehr zu den Werten vergangener Zeiten ist unmöglich, die gegenwärtig herrschenden Werte sind ein Anzeichen der Verrohung und des Niedergangs des Geistes, und neue Werte gibt es nicht, abgesehen von der Geste totaler Negation, die gerade durch ihren totalen Charakter inhaltslos ist.

        Wenn diese Charakterisierung zutreffend ist, dann kann Adornos Werk letztlich nicht nur nicht als eine Fortsetzung des Marxschen Denkens gelten, sondern es läuft ihm diametral zuwider mit seinem Pessimismus, der, da es eine positive Utopie nicht gibt, allein in einem unartikulierten Aufschrei münden kann. „

      3. @El_Mocho:

        Mit dem Kolakowski-Zitat wird mir jetzt zumindest endlich klar, worauf Du eigentlich hinauswillst.

        Muss ich drüber nachdenken, was ich davon halte.

      4. @ El_Mocho

        „Das ist ja das Tolle an der Philosophie von Adorno und Horkheimer, dass sie es ermöglicht, die Aufklärung und überhaupt die ganze Kultur der westlichen Moderne abzulehnen und sich zugleich zu ihrem eigentlich authentischen Vertreter zu erklären“

        Ich finde schon, dass man bei der Beurteilung einer Philosophie versuchen sollte zu verstehen, wie die philosophischen Hintergründe und spezifischen Begründungen einer bestimmten Position aussehen und auf welche spezifische Fragestellung diese Position versucht eine Antwort zu geben.

        Adorno und Horkheimer haben eine auf der kulturellen Moderne beruhende Gesellschaft (Aufklärung, Menschenrechte, Demokratie, individuelle Freiheitsrechte) eindeutig bejaht. Sie strebten keine kulturelle Regression in voraufklärerische Gesellschaften mit prämodernen mythologischen Werten und Normen an, wie es manche reaktionäre Konservative (z.B. die US-amerikanischen rechten Anti-Kulturmarxismus-Ideologen) oder wie es religiöse Fundamentalisten oder Rechtsradikale tun.
        Und diese spezifische Differenz der immanenten Aufklärungskritik von Adorno und Horkheimer zu reaktionären Formen von Aufklärungskritik sollte m.E. daher auch klar festgehalten werden.

        Adorno und Horkheimer hatten die Erfahrung gemacht, dass eine Hochkultur wie Deutschland, mit deren kulturellen Errungenschaften in Literatur, Musik und Philosophie sie sich zutiefst verbunden fühlten, in die Nazi-Barbarei abdriftete und dass zahlreiche deutsche Intellektuelle und Wissenschaftler dieser Zeit diese Barbarei unterstützten, sei es aus Gründen ideologischer Überzeugung, sei es aus Opportunismus.
        Es erscheint vor diesem Hintergrund ja verständlich die Frage zu stellen, was im Prozess der Aufklärung falsch gelaufen ist, wenn Vernunft sich in den Dienst totalitärer Interessen stellt.

        Hierbei ist des Weiteren anzumerken, dass Adorno und Horkheimer der heutige Forschungsstand der Entwicklungspsychologie über die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen kultureller Evolution, kultureller Stagnation und kultureller Regression fehlte, so dass diese entwicklungspsychologische Dimension in ihren Schriften unterbelichtet blieb. Erst Habermas integrierte die entwicklungspsychologischen Forschungsergebnisse und Theorien von Piaget und Kohlberg in die Kritische Theorie.
        Leider beging Habermas – und in diesem Punkt bin ich mit seinem Kritiker Hans Albert übrigens weitgehend einer Meinung – ab Anfang 2000 einen Aufklärungsverrat, in dem er m.E. völlig unnötige und rational nicht zu rechtfertigende Konzessionen an dem konservativen Katholizismus machte und sogar mit Joseph Ratzinger zusammen ein Buch herausbrachte: Jürgen Habermas & Joseph Ratzinger – Dialektik der Säkularisierung, Herder, 8. Auflage, 2011. Die Kritik von Hans Albert hierzu findet sich in dem Buch: Hans Albert – Joseph Ratzingers Rettung des Christentums. Beschränkungen des Vernunftgebrauchs im Dienste des Glaubens, Alibri, S. 2008, S. 89 – S. 104.
        Eine Annäherung an den konservativen Katholizismus hätte m.E. einem mit den Forschungsergebnissen und Theorien von Piaget und Kohlberg geschulten Denker wie Habermas nicht passieren dürfen. Ich schätze das Werk von Habermas in vielerlei Hinsicht, aber bei diesem Punkt habe ich eine gravierende Differenz mit ihm.

        Adornos und Horkheimers Motivation zu ihren Überlegungen zur Kritik der instrumentellen Vernunft erscheinen mir hingegen vor dem Hintergrund der damaligen geschichtlichen Situation und des damaligen Forschungsstandes der Psychologie als verständlich.

        „(wobei das natürlich auch alles nur Worte sind und keine stringente Argumentation).“

        Es ist eine Darstellung einer wesentlichen Dimension des Kritikverständnisses von Adorno und Horkheimer. Dieses Kritikverständnis zu berücksichtigen ist grundlegend, wenn man Adorno und Horkheimer verstehen und fair beurteilen will.

        „Ebenso in der Kunst; Adornos ästhetische Schriften atmen eine tiefe Verachtung ungebildeter Menschen“

        Nicht der Menschen, sondern eine „Verachtung“ solcher kultureller Phänomene, welche Adorno als Niedergang der Kultur betrachtete.

        „,die Popmusik hören statt Streichquartette und ins Kino gehen statt ins Theater,“

        Dass Adorno Popmusik ablehnte, ist zutreffend, daher finde ich es ja auch amüsant, dass Luisman ausgerechnet den elitär-kulturkonservativen Adorno für zeitgenössische Popmusik mit vermeintlichen oder tatsächlichen politischen Inhalten, die ihm nicht gefallen, verantwortlich machen möchte, wiewohl Adorno dergleichen verabscheut hätte.
        Man kann sicherlich bei Adorno und Horkheimer eine einseitige und beschränkte Einstellung kritisieren, die nur bereit ist solche kulturellen Phänomene als wertvoll anzuerkennen, die der Hochkultur angehören, während sie in vielem Anderen nur einen Niedergang der Kultur zu sehen vermögen. Diese Kritik an Adornos und Horkheimers Kulturverständnis gibt es ja auch seitens linker Kritiker. Man kann aber eben nicht – wie es die rechten Anti-Kulturmarxismus-Ideologen tun – hingehen und derart rigoros an der Hochkultur orientierten Personen unterstellen, sie wollten die „westliche Kultur zerstören“, während in Wahrheit gerade die Bewahrung der westlichen Hochkultur ihr eigentliches Anliegen war und die Kritik am – aus ihrer Sicht – Niedergang der Kultur ein Kernthema ihrer Schriften ist.
        Kurz: Die linke Kritik an Adorno und Horkheimer, dass diese bezüglich der Hochkultur einen elitären Kulturkonservatismus vertraten, da ist sicherlich was dran.

        „aber gleichzeitig erklärt man sich zum Vertreter von deren Interessen und zum Verteidiger ihrer Menschlichkeit, die sie durch die kapitalistische Entfremdung verloren haben“

        Auch Angehörige anderer politischer Weltsichten sehen sich gerne als Vertreter der Interessen der meisten Menschen und des Weiteren halte ich die marxistische Kritik an der „kapitalistischen Entfremdung“ in vielerlei Hinsicht für zutreffend.

        „die die Frankfurter Autoren aufgrund ihres höheren Wissens durchschauen, ganz im Gegensatz zu den Betroffenen, denen solche Überlegungen einfach am Allerwertesten vorbeigehen(was man dann wiederum als Symptom der Entfremdung verstehen kann).“

        Man muss nun allerdings keineswegs ein Anhänger des elitär-kulturkonservativen Kulturverständnisses von Adorno und Horkheimer sein um zu erkennen und zu kritisieren, dass eine kapitalistische Konsumgesellschaft zwangsläufig darauf angewiesen ist zu versuchen irrationale und künstliche Bedürfnisse in den Menschen hervorzurufen und/oder zu steigern. Die Kritik an der Konsumgesellschaft/Kulturindustrie der Frankfurter Schule enthält m.E. durchaus einiges Wahre.

        „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Adorno und Horkheimer niemals näher mit der Philosophie der Aufklärung beschäftigt haben, wahrscheinlich kennen sie sie nur aus Büchern zur Philosophiegeschichte.“

        Also sie kannten den allgemeinen Stand der Geschichte der Philosophie in ihrer Zeit schon, waren aber keine Experten für die Philosophie der Aufklärung. Umfassendes Wissen besaßen Adorno und Horkheimer über Kant, Hegel, Marx und Nietzsche, Horkheimer des Weiteren über Schopenhauer und Adorno auch über den deutschen Idealismus allgemein.
        Dass Fachleute auf dem Gebiet der Aufklärung bestimmte Passagen der „Dialektik der Aufklärung“ einer fundierten Kritik unterziehen könnten, ist bestimmt richtig und dagegen hätte ich auch nichts einzuwenden, das wäre ernsthafte und fundierte Kritik und nicht Politpropaganda

        „Nirgendwo finden sich bei Autoren der Aufklärung die von A. und H. unterstellten totalitären Tendenzen und sie werden auch nicht durch Zitate belegt.“

        Kannst du denn mal Zitate von Adorno und Horkheimer nennen, in denen sie ganz konkret Philosophen der Aufklärung totalitäre Tendenzen vorwerfen? (Mit Belegquellen wäre nett, damit ich sie im Kontext nachlesen kann.)

        „Beispiel: Die im Kapitel „Aufklärung und Moral“ behandelten Autoren sind Kant, De Sade und Nietzsche, keiner von ihnen ist ein Aufklärer,“

        Also Kant wird m.W. schon der Aufklärung zugerechnet, nur eben nicht der Radikalaufklärung, die dir, und da bin ich ganz bei dir, auch mir sympathischer ist und weltanschaulich näher steht als die gemäßigte Aufklärung. Allerdings waren die Forschungsergebnisse über die Radikalaufklärung damals auch nur in geringem Maße verfügbar, das ist ja erst die letzten Jahrzehnte ein großes Thema in der Forschung zur Aufklärung geworden.

        „und die bedeutenden Moralphilosophen der Aufklärung Hume, Holbach oder Adam Smith kommen (auch sonst im Buch) überhaupt nicht zur Sprache (Hume wird zweimal kurz erwähnt, aber nicht zitiert und nicht näher behandelt). Hier reden einfach Leute von Dingen, die sie nicht kennen.“

        Kann sein.
        Nehmen wir an, du hättest Recht und Adorno und Horkheimer kannten sich mit der Philosophie der Aufklärung zu wenig aus und ihr Buch enthielte diesbezüglich einige Fehler. Dann sollte man diese Fehler herausarbeiten und kritisieren.
        Sollte also ein zeitgenössischer Experte für die Philosophie der Aufklärung eine Kritik an Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes der Aufklärungsforschung verfassen, dann würde ich es sicherlich interessiert lesen und falls du eine solche Schrift kennst, darfst du mich gerne darauf hinweisen.

        Aber auch dann bliebe es wahr, dass die „Dialektik der Aufklärung“ Adornos und Horkheimers Selbstverständnis zufolge als eine Kritik der Aufklärung vom Standpunkt der Aufklärung intendiert war, dass sie eine aufgeklärte Gesellschaft entschieden bejahten, dass man für eine faire Beurteilung des Buches die spezifische Problemstellung mitreflektieren sollte, auf die sie mit dem Buch versuchten eine Antwort zu geben und ihre Theorie von den zwei Vernunftformen (oder meinetwegen Vernunftfunktionen) würde dadurch auch nicht widerlegt.

      5. Ich sage mal kurz was zu meinem weiteren Vorgehen hinsichtlich der hier geführten interessanten Diskussionen. Leider habe ich im Augenblick eher wenig Zeit, daher kann ich jetzt nicht mal eben schnell zu allem was runterschreiben.
        Ich werde mich jetzt erstmal wieder Degeles Einführung in die Gender Studies widmen und anschließend dann Cero in dem anderen Strang antworten, inwiefern meine genannten Kritikpunkte an der Unwissenschaftlichkeit der Gender Studies bei diesem Buch zutreffen.
        Danach werde ich dann irgendwann auf den von El_Mocho geposteten Text von Kolakowski eingehen und danach irgendwan auf den Text von Luisman, den er als Reaktion auf den obigen Blogbeitrag schrieb.
        Wir stehen ja nicht unter Zeitdruck, daher ist es nicht schlimm, wenn es ein bißchen dauert.

        Im Allgemeinen schätze ich den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski genauso wie ich Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schätze, das Gleiche gilt auch für Karl Popper oder Hans Albert.

        Daher vielleicht zuerst kurz was zum sogenannten Positivismusstreit:
        Ich interessiere mich für die Teilwahrheiten der verschiedenen Strömungen der Philosophie und was persönlich oder ideologisch bedingte unsachliche Streitereien zwischen verschiedenen Philosophen oder Philosophieschulen – und ich meine jetzt explizit unsachliche Streitereien, nicht ernsthafte, fundierte und differenzierte kritische Auseinandersetzungen, die natürlich stets interessant sind – angeht, positioniere ich mich im Allgemeinen nicht auf einer der beiden Seiten, sondern bedauere es, dass große Denker es manchmal nicht schaffen die Position der anderen Seite korrekt zu rezipieren und darzustellen und dann begründet vom eigenen philosophischen Standpunkt aus zu kritisieren.

        Im Kontext des sogenannten Positivismusstreits hat Adorno sich z.B. keine Mühe gegeben Karl Popper wirklich zu verstehen und Poppper hat sich – woran Adorno bei seinem Auftreten in diesem Fall aber nicht ganz unschuldig war – auch nie die Mühe gemacht die Position Adornos wirklich zu verstehen. Übrig bleibt in diesem Fall ein amüsantes Schauspiel, wie große Denker aneinander vorbeireden, aber wenig wirklich Erkenntnisförderndes.

        Ein von mir geschätzter Vertreter der Kritischen Theorie, nämlich Peter V. Zima, hat später Aspekte von Karl Poppers und Hans Alberts kritischem Rationalismus ausdrücklich mit seiner Version der Kritischen Theorie, die in der Tradition Adornos steht, verbunden. Er hat auch versucht einige philosophische Grundlagen von Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie im Hinblick auf den sogenannten Positivismusstreit etwas genauer und differenzierter darzustellen und auch was beide Seiten eigentlich bei der anderen Seite hätten wahrnehmen und berücksichtigen müssen, um nicht aneinander vorbeizureden und sich gegenseitig fundierter und begründeter, also produktiver kritisieren zu können.

        Was die obige Kritik von Kolakowski an der Kritischen Theorie angeht, so bewegt sich der Text irgendwo zwischen konservativer Propaganda einerseits und ernsthafter begründeter Kritik andererseits, interessante und bedenkenswerte Passagen mischen sich mit Unsinn, Falschdarstellungen und unsachlichen Diskursstrategien.
        In diesem Sinne ist der Text m.E. insgesamt dem Niveau eines Philosophen vom Rang Kolakowskis unwürdig.

        Kurz ein bißchen was zu den Hintergründen: Leszek Kolakowski (1927 – 2009) war einer der bedeutendsten Philosophen Polens. Er begann seine Karriere als religionskritischer Marxist-Leninist, der sich insbesondere Kritiken der polnischen christlichen Philosophie widmete. Zum Glück blieb er nicht in diesem beschränkten Stadium stecken, sondern macht eine interessante Entwicklung, die ihn dann aber letztendlich – in meinen Augen leider – zum genau gegenteiligen weltanschaulichen Spektrum führte.
        Kolakowski wandelte sich zuerst vom dogmatischen, aber gebildeten Leninisten zu einem bekannten Vertreter des liberalen Marxismus mit Sympathien für das Christentum und dann später zu einem konservativ-christlichen Existenzphilosophien und Antimarxisten, er entwickelte sich also von einem antichristlichen Marxisten hin zu einem antimarxistischen Christen.

        Einen solchen Umschlag ins genaue Gegenteil finde ich persönlich dann doch etwas schade, eine ausgewogene Haltung, die sich sowohl für die Teilwahrheiten christlicher Philosophie als auch für die Teilwahrheiten marxistischer Philosophie ernsthaft interessiert, hätte mir persönlich besser gefallen bzw. wäre näher an meinem eigenen „meta-philosophischem Standpunkt“, nach dem es darum gehen sollte, stets ernsthaft zu versuchen die Teilwahrheiten jeder philosophischen Strömung herauszuarbeiten und einzubeziehen.
        Aber o.k., warum sollen wir nicht auch den zeitgenössischen Konservativen mal einen großen Philosophen gönnen, allzu viele große konservative Denker gibt es ja heutzutage nicht und auch die muss es aber geben. Es sei darauf hingewiesen, dass Kolakowski in jeder Phase seines Denkens grundsätzlich lesenswert ist.

        Die obige von El_Mocho gepostete Passage stammt aus seiner konservativ-antimarxistischen Phase und ist aus dem dritten Band von „Die Hauptströmungen des Marxismus“, einer kritischen Darstellung marxistischen Denkens.
        Die ersten beiden Bände sind m.E. insgesamt zwar nicht gerade als ausgewogen zu bezeichnen, was die Darstellung und Gewichtung von Errungenschaften und Teilwahrheiten marxistischen Denkens einerseits und Einseitigkeiten und Fehlern marxistischen Denkens andererseits angeht, denn Kolakowski legt natürlich einen größeren Schwerpunkt auf Kritik als auf Herausarbeitung von Teilwahrheiten, trotzdem sind die ersten beiden Bände m.E. im Großen und Ganzen immer noch lesenswert. Sie sollten aber m.E. nicht das einzige bleiben, was man über marxistische Philosophen gelesen hat, denn wie gesagt, kommen Teilwahrheiten und Errungenschaften marxistischen Denkens zu kurz und dementsprechend wird also in meinen Augen ein zu einseitiges Bild vermittelt. Wer die großen Denker des Marxismus mit einer halbwegs offenen Haltung liest oder ausgewogener Überblicksdarstellungen oder Einführungswerke zu ihnen mit einer halbwegs offenen Haltung liest, wird m.E. schnell merken, dass diese doch wesentlich mehr zu bieten haben. Ich muss hier hoffentlich nicht extra betonen, dass ich keinesfalls Lenin, Stalin oder Mao Tse Tung meine, wenn ich von großen marxistischen Denkern spreche.

        Für überwiegend schlecht halte ich übrigens Kolakowskis Passagen zu anarchistischen Denkern. Wann immer Kolakowski sich zu Anarchisten äußert, zeigt sich m.E., dass er davon wenig verstand. Das zumindest hatte er mit Adorno, Horkheimer und Marcuse gemeinsam.

        Der dritte Band von Die „Hauptströmungen des Marxismus“ fällt hinsichtlich des Niveaus im Gegensatz zu den ersten beiden Bänden m.E. leider ab und zwar, weil es Kolakowski in diesem dritten Band m.E. zu wenig gelang sich um Objektivität zu bemühen, er zieht da zum Teil unsachlich über marxistische Denker her und bietet in meinen Augen zum Teil tendenziöse und verdrehte Darstellungen.

        Dass Kolakowski im dritten Band der „Hauptströmungen des Marxismus nicht mehr besonders um Objektivität bemüht war, deutet er ehrlicherweise am Anfang des 3. Bandes selbst an:

        „Eine andere Schwierigkeit bestand darin, dass ich nicht den wünschenswerten Abstand von meinen Themen gewinnen konnte.“

        (aus: Leszek Kolakowski – Die Hauptströmungen des Marxismus, Piper Verlag, 1978, Vorwort S. 9)

        Im Gegensatz zu manch anderen konservativen Marxismuskritikern hat Kolakowski viele der marxistischen Denker, die er kritisiert, tatsächlich im Original gelesen und im Gegensatz zu solchen pseudo-intellektuellen drittrangigen konservativen Schreiberlingen wie William S. Lind hat Kolakowski auch Werke der Kritischen Theorie im Original gelesen, (Kolakowski war ja selbst jahrelang marxistischer Philosoph gewesen).
        Daher enthält auch der dritte Band der „Hauptströmungen des Marxismus“ trotz des Mangels an Bemühen um Objektivität bei der Darstellung auch Analysen und Kritikpunkte, die interessant und bedenkenswert sind, aber doch eben zum Teil vermischt mit einseitigen tendenziösen Darstellungen, die ein verzerrtes Bild ergeben.
        Darauf wollte ich zumindest kurz eingegangen sein, ausführlicher zu der obigen Passage von Kolakowski dann demnächst irgendwann.

  3. Eine Verständnisfrage an die Fachleute: Wie lässt sich der Intersektionalismus in Bezug auf sie oben beschriebene postmoderne/poststrukturalistischen Linke einordnen? Ist dieser eine Variante davon oder gar eine der zentralen „Ideologiesäulen“ aller postmodernen/poststrukturalistischen Linken?

    1. @ Klaus T

      „Eine Verständnisfrage an die Fachleute: Wie lässt sich der Intersektionalismus in Bezug auf sie oben beschriebene postmoderne/poststrukturalistischen Linke einordnen? Ist dieser eine Variante davon oder gar eine der zentralen „Ideologiesäulen“ aller postmodernen/poststrukturalistischen Linken?“

      Der Intersektionalismus ist heute eine zentrale Ideologiesäule der politisch korrekten postmodernen/poststrukturalistischen Linken – also innerhalb des Spektrums von Richtungen wie Gender Studies, Queer-Feminismus, Critical Whiteness, postmoderner Multikulturalismus usw. Dort spielen die entsprechenden einseitigen Auffassungen von Intersektionalität, bei denen Diskriminierungen stets nur in eine Richtung laufen und der anderen Seite der Status der „Norm“ zugewiewesen wird, eine zentrale Rolle.

      Streng genommen muss man aber unterscheiden zwischen dem ursprünglichen französischen Poststrukturalismus/Postmodernismus und der US-amerikanische Variante des Poststrukturalismus/Postmodernismus, die später entstanden ist und aus der die Political Correctness hervorging. Die ursprünglichen französischen Poststrukturalisten waren noch nicht politisch korrekt und es gab bei ihnen auch kein entsprechendes Intersektionalitätsmodell, sie hatten aber z.T. einen kritikwürdigen Hang zum Relativismus, der m.E. die spätere Instrumentalisierung von Teilen ihres Werkes durch PC-Ideologen in den USA begünstigt hat. Ich sehe darüber hinaus im ursprünglichen französischen Poststrukturalismus aber auch Teilwahrheiten. (Ich interessiere mich stets für die Teilwahrheiten der verschiedenen Richtungen der Philosophie.) Ich bin kein prinzipieller Gegner des Poststrukturalismus, ich bin nur ein prinzipieller Gegner der politisch korrekten postmodernen/poststrukturalistischen Linken und ihres Einflusses, also der politisch korrekten Variante des Poststrukturalismus/Postmodernismus, wie sie eben im Kontext von Gender Studies, Critical Whiteness, Kulturrelativismus/Multikulturalismus, Identitätspolitik und einseitig konzipierten Intersektionalitätsmodellen zum Ausdruck kommt.

  4. Dem armen Luisman scheint es gar nicht gefallen zu haben, dass Graublau diesen Artikel veröffentlicht hat. 🙂
    Luisman hat einen amüsanten Text dazu geschrieben, (wobei der Gute sich aber ausdrücklich weigert auf diesen Artikel hier zu verlinken):

    https://luismanblog.wordpress.com/2016/08/11/immunisierungsstrategie/

    Also eigentlich wollte ich ja schon lange die interessante Diskussion mit Cero über die Wissenschaftlichkeit bzw. Unwissenschaftlichkeit der Gender Studies in dem anderen Strang fortgesetzt haben und habe deshalb sogar extra nochmal angefangen, Degeles Buch (das ich vor einigen Jahren bereits gelesen hatte) nochmal durchzuarbeiten, aber ich sehe schon, dass ich wohl mit dieser Diskussion hier noch etwas beschäftigt sein werde, da sie offenbar gerade sehr akut ist. Sorry Cero, habe dich nicht vergessen.

    1. »Luisman hat einen amüsanten Text dazu geschrieben«

      Der ist ja wirklich allerliebst:

      »Der Begriff „kultureller Marxismus“ ist allgemein bekannt, auch wenn sich die sozialistische Wikipedia weiter bockig stellt. Die gesamte alt-right in den USA weiß was er bedeutet«

      In der gesamten Alt Right allgemein bekannt.

      »Weit berühmt in engen Kreisen!«

      Da kann er gerne bleiben.

      1. @ Djadmoros

        Auch stets interessant, dass Anhänger der rechten Anti-Kulturmarxismus-Ideologie manchmal anfangen auf einmal selbst postmodernistisch-wahrheitsrelativistisch zu argumentieren, wenn sie mit Gegenargumenten und Belegen konfrontiert werden:

        „Man könnte sich auf Kant berufen und es wie einen Gottesbeweis behandeln, d.h. man kommt zum Schluss dass weder Beweis noch Gegenbeweis möglich ist.“

        Selbstverständlich sind die hier möglich. Es handelt sich hier nicht um ein ideengeschichtliches Thema aus der Antike, zu dem kaum Material vorläge, sondern um gut erforschte philosophische Strömungen wie Kritische Theorie einerseits und Poststrukturalismus/Postmodernismus andererseits, deren Rezeptionsgeschichte innerhalb der Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften und innerhalb der Linken gerade mal ein paar Jahrzehnte andauert.

  5. Der arme Luisman hat kürzlich an anderer Stelle mal wieder seine geisteswissenschaftliche Inkompetenz unter Beweis gestellt, indem er die (zwar auch aus links-maskulistischer Perspektive kritikwürdige, aber ideengeschichtlich irrelevante) Feminismus-Auffassung im Spätwerk von Herbert Marcuses allen Ernstes als wichtige ideengeschichtliche Quelle ausgerechnet für den postmodernen Gender-Feminismus darstellen wollte, obwohl jedem, der sich auch nur ansatzweise mit diesen beiden Feminismus-Auffassungen befasst hat, klar sein müsste, dass sie miteinander unvereinbar sind. (Marcuse ist übrigens von damaligen Feministinnen in Deutschland heftig angefeindet worden, weil er es überhaupt „gewagt hatte“ als Mann eine eigenständige Feminismus-Interpretation zu entwerfen.)

    Ich schrieb eine Richtigstellung zu diesem Thema und poste diese, da es thematisch passt, auch hier:

    Herbert Marcuse hat viele gute Sachen geschrieben, (z.B. „Der eindimensionale Mensch“ ist m.E. auch heute noch lesenswert), aber Marcuses persönliche Feminismus-Interpretation in seinem Spätwerk ist auch aus links-maskulistischer Perspektive kritikwürdig.
    Nur hat Marcuses Feminismus-Auffassung offensichtlich nichts mit dem intersektionalen Gender/Queer-Feminismus zu tun. Dass sich Gender-Feministinnen nicht auf Marcuses-Feminismus-Interpretation beziehen, kann nicht nur leicht nachgewiesen werden, es kann sogar leicht verstanden werden, warum sie es nicht tun.

    Die falsche Behauptung, die (zum Glück wenigen) Texte zum Feminismus in Marcuses Spätwerk wären in irgendeiner Weise ideengeschichtlich bedeutsam (oder hätten etwas mit den heute vorherrschenden feministischen Strömungen zu tun) hatten Nick und ich bereits vor Jahren auseinandergenommen, kann in diesem Strang hier auf „Alles Evolution“ nachgelesen werden:

    https://allesevolution.wordpress.com/2014/01/04/selbermach-samstag-lxvi/

    Auch Nina Power als eine der sehr seltenen Feministinnen, die sich heute positiv auf Marcuses Feminismus-Interpretation beziehen, erwähnt übrigens den geringen ideengeschichtlichen Einfluss von Marcuses Feminismus-Auffassung (gegen Ende dieses Artikels):

    “Marcuse’s contribution to feminism—and feminism’s contribution to Marcuse—may be a thing of marginal historical importance (…)

    http://www.academia.edu/23807591/Marcuse_and_Feminism_Revisited

    Dass Marcuse für jene postmodernistischen Strömungen, die vom linken Maskulismus aufgrund ihres Verhaftetseins in politisch korrekter Ideologie kritisiert werden, völlig irrelevant ist, hatte ich ja schon häufiger anhand von Einführungsbüchern/Lehrbüchern zu diesen Strömungen belegt. Es sei an dieser Stelle wiederholt und anschließend erkläre ich dann, warum intersektionale Gender-Feministinnen sich in der Regel nicht die Bohne für Marcuses Feminismus-Interpretation interessieren.

    Zieht man Einführungswerke zu Gender-Studies/Queer-Theorie/Critical Whiteness etc. heran, Werke, in denen die wirklichen theoretischen und ideengeschichtlichen Grundlagen der entsprechenden Strömungen dargestellt werden, dann lässt sich die tatsächliche Relevanz von Marcuse für die Theoriebildung in diesen Strömungen ziemlich eindeutig ermitteln.
    Ich führe daher mal wieder ein paar Einführungswerke zu Critical Whiteness, Gender Studies, Queer-Feminismus etc. auf, die ich besitze und deren Literaturverzeichnis oder Personenregister ich (soweit vorhanden) nach Marcuse durchsucht habe:

    Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies – enthält ein Literaturverzeichnis und Personenregister, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Nina Degele: Gender/Queer Studies – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Andreas Kraß: Queer Denken – enthält ein Personenregister, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Gabriele Winker, Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Therese Frey Steffen: Gender – enthält eine kommentierte Bibliographie, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Annamarie Jagose: Queer Theory – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Hadumond Bußmann & Renate Hof : Genus- Geschlecherforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften – enthält ein Personenregister, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Heinz-Jürgen Voss/Salih Alexander Wolter: Queer und (Anti-)Kapitalismus – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Leah Bretz &Nadine Lantzsch – Queer-Feminismus. Label & Lebensrealität – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Katharina Röggla: Critical Whiteness Studies – enthält ein Literaturverzeichnis, Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    Renate Kroll (Hrsg.): Metzler Lexikon Gender Studies – kein Eintrag zu Herbert Marcuse. Unter dem Eintrag “Kritische Theorie” wird lediglich erwähnt, dass es mal Feministinnen gab, die sich auf Adornos und Horkheimers “Dialektik der Aufklärung” bezogen haben. Da es sich hierbei um das bekannteste Werk der Frankfurter Schule handelt, wäre es schon rein statistisch unwahrscheinlich, dass es nie eine Feministin gegeben hätte, die sich mal irgendwie darauf bezogen hätte. Von einem nennenswerten Einfluss der Frankfurter Schule auf die Gender Studies ist in dem Eintrag natürlich nicht die Rede, von einem Einfluss von Herbert Marcuse auf die Gender Studies erst Recht nicht.

    Luca Di Blasi – Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest – enthält ein Literaturverzeichnis: Herbert Marcuse kommt darin nicht vor.

    In den genannten Büchern wird Herbert Marcuse also noch nicht mal am Rande erwähnt, sein Werk ist im Allgemeinen für die Theoriebildung des US-amerikanischen Poststrukturalismus/Postmodernismus irrelevant.

    (Und nein, Luisman, das wird auch nicht dadurch widerlegt, dass man die Begriffe „Marcuse“ und „Gender“ in eine Suchmaschine eingibt und dann darauf verweist, dass viele Ergebnisse erscheinen – das lässt sich nämlich mit jedem bekannten Namen so machen und es erscheinen dann immer viele Ergebnisse. Auf diese Weise kann mal alles „beweisen“ – also nichts.)

    Warum interessieren sich intersektionale Gender-Feministinnen also nicht für Marcuses Feminismus-Interpretation? U.a. deshalb, weil diese in gravierendem Widerspruch zu den theoretischen Grundlagen des Gender-Feminismus steht.

    (Und natürlich hat sich erst Recht nie irgendeine marxistische Strömung für Marcuses Feminismus-Auffassung interessiert – mit guten Gründen, sie ist nämlich mit der marxistischen Kapitalismuskritik nicht kompatibel.)

    Ich schrieb dazu damals u.a. in dem oben verlinkten Diskussionsstrang:

    „Der Text „Marxismus und Feminismus“ von Marcuse ist in gewisser Hinsicht ein amüsantes Beispiel für einen Text, der zwangsläufig sowohl im vorherrschenden Feminismus als auch im Marxismus einflusslos bleiben musste, weil er mit deren zentralen theoretischen Grundlagen nicht vereinbar ist.

    Teils argumentiert Marcuse hier gleichheitsfeministisch: Mann und Frau seien ursprünglich eigentlich psychologisch identisch und langfristig würde es zu einer weitgehend androgynen Entwicklung kommen.

    Dann folgt aber auf einmal eine Wendung hin zu einer quasi differenzfeministischen Argumentation: Es habe sich aber dennoch im Laufe der Geschichte eine „zweite Natur“ von Mann und Frau herausgebildet, die nicht so einfach abgelegt werden könne.
    Und dann driftet er quasi ab in esoterischen Feminismus: Die kapitalistische Gesellschaft sei zu stark von der Männlichkeit geprägt, daher müsse die Gesellschaft nun weiblicher werden. Also quasi: Die Gesellschaft ist zu yang-orientiert, sie muss nun yin-orientierter werden – so sagt er es zwar nicht wörtlich, aber auf diese Standardfloskel des esoterischen Feminismus läuft es sinngemäß hinaus.

    Jeder mit ein bißchen Grundkenntnis in feministischer und marxistischer Theorie kann sich leicht vorstellen, wie die typische Gleichheitsfeministin und der typische Marxist darauf wohl reagieren: Beide wenden sich natürlich mit Grausen ab, die Feministin, weil es ihr zu geschlechter-essentialistisch rüberkommt, der Marxist, weil eine solche „Kapitalismuskritik“ nun wirklich gar nichts mehr mit der marxschen Theorie zu tun hat.

    (…)

    Ich kenne keine feministische, keine marxistische und keine postmodernistische Strömung, für die dieser Text von Marcuse rezeptions- und theoriegeschichtlich bedeutsam wäre.
    (Mal abgesehen davon, dass diesen Text heutzutage ohnehin kaum jemand kennt.)“

    Außer zum esoterischen Feminismus weist Marcuses Feminismus-Interpretation m.E. potentiell auch Anknüpfungspunkte zum Differenz-Feminismus im ursprünglichen französischen Poststrukturalismus auf, z.B. zu der auf Luce Irigaray zurückgehenden differenzfeministischen Strömung. Allerdings sind mir auch dort bislang keine Bezugnahmen auf Marcuses Feminismus-Interpretation bekannt, aber dort wäre es zumindest vorstellbar. Aber doch nicht im Gender-Feminismus, der eine besonders extrem gleichheitsfeministisch ausgeprägte Variante des Feminismus darstellt. Für den Gender-Feminismus ist Marcuses merkwürdige Synthese aus gleichheitsfeministischen und differenzfeministischen Aspekten aufgrund der differenzfeministischen und (aus gender-feministischer Perspektive) geschlechter-essentialistischen Elemente, die in Marcuses Feminismus-Interpretation eine wichtige Rolle spielen, unannehmbar.

    Keine Gender-Feministin würde die differenzfeministische Idee akzeptieren, dass Frauen ihre weibliche „zweite Natur“ stärker in die Gesellschaft einbringen sollten, das wäre das Gegenteil einer „Dekonstruktion von Geschlecht“.

    Und selbst dort, wo Marcuse von einer „androgynen Gesellschaft“ als Endziel spricht – die aber gemäß Marcuses Feminismus-Interpretation erst nach der „differenzfeministischen Phase“, in welcher Frauen ihre „Weiblichkeit“ stärker in die Gesellschaft einbringen sollen, entstehen kann – bleibt noch ein gravierender Unterschied zum Gender-Feminismus – Marcuse lehnt nämlich Ansichten, wie die von Judith Butler vertretene, dass auch das biologische Geschlecht als soziale Konstruktion angesehen werden sollte, ausdrücklich ab.

    Herbert Marcuse:

    „Das ist auch die Grenze jeder Interpretation einer möglichen androgynen Gesellschaft. Das kann nicht heißen, dass in einer solchen Gesellschaft, alle Individuen gleichzeitig, bis in die biologischen Qualitäten hinein, Männer und Frauen werden. Androgyn kann nur heißen, wenn es überhaupt einen Sinn hat, dass in einer solchen Gesellschaft Mann und Frau, jeder in seiner Individualität, nicht mehr die Vorherrschaft männlich aggressiver und weiblich rezeptiver Qualitäten darstellt, sondern dass beide, männliche und weibliche Qualitäten, in der ganzen Existenz der Individuen zu einer Einheit zusammengeschlossen werden. Aber es kann nie heißen, dass Mann Frau oder Frau Mann werden sollten.“

    (aus: Gespräch mit Herbert Marcuse: Zum Aufsatz „Marxismus und Feminismus“, in: Wolfgang Dreßen (Hg.) – Jahrbuch Politik 7, Politik 66, Wagenbach, 1976, S. 53)

    Des Weiteren mißversteht der arme Luisman Marcuses Ansichten zu geschlechtsbezogener Diskriminierung/Unterdrückung, Marcuse war keineswegs der Ansicht, dass nur Frauen diskriminiert/unterdrückt würden und die Männer nicht. Wenn Marcuse von „patriarchalisch“ spricht, dann hat er dabei eine Gesellschaft im Sinn, bei der einige wenige Männer an der Spitze stehen und alle anderen Männer und Frauen in spezifische Unterdrückungskontexte eingebunden sind.

    Herbert Marcuse:

    „War es wirklich so einseitig? War die Frau immer so viel unglücklicher und erniedrigter als der Mann? Ich halte es für unzulässig, die Frau zum alleinigen und absoluten Opfer der Weltgeschichte zu erklären.
    Ich habe vor einiger Zeit einmal absichtlich provoziert, indem ich sagte, dass ich in den Bildbeilagen des Playboy-Magazins nicht etwas sehen könnte, das mit ausreichenden Gründen als Ausbeutung zu bezeichnen wäre. Dies Ausbeutung nennen heißt, die wirkliche Ausbeutung zu kaschieren, herunterspielen (…).”

    (aus: Jürgen Habermas, Silvia Boventschen u.a. – Gespräch mit Herbert Marcuse, Suhrkamp, 1978, S. 84)

    „(…) falls die Emanzipation nur oder hauptsächlich darin besteht, dass die Frau an dem gesellschaftlich bestehenden Berufssystem, an der gesellschaftlich bestehenden Teilung der Arbeit ihren Anteil hat, größeren Anteil als zuvor, dann heißt das nur, dass die Frau im gleichen Maße auch an der Repression, die in dieser gesellschaftlichen Teilung der Arbeit sich ausdrückt, Anteil hat, das heißt, dass sie jetzt derselben Repression ausgesetzt ist, der früher der Mann als Berufstätiger ausgesetzt war. (…) Denn die Emanzipation der Frauen zum Berufsleben emanzipiert nicht die Frau als Frau, sondern verwandelt die Frau in ein Arbeitsinstrument.“

    (aus: Emanzipation der Frau in der repressiven Gesellschaft. Ein Gespräch mit Herbert Marcuse, in: Das Argument, 4. Jahrgang 1962, Heft 4, 7. Auflage März 1972)

    „Innerhalb der bestehenden Struktur sind weder Männer, noch Frauen frei – die Entmenschlichung der Männer ist möglicherweise sogar größer, als die der Frauen (…)“.

    (aus: Herbert Marcuse – Konterrevolution und Revolte, Suhrkamp, 1973, S. 91)

    Leider verfiel Marcuse nun auf die Schnapsidee, der Feminismus könne die Männer mitbefreien:

    „Ich habe (…) gesagt (…): Von der Emanzipation der Frau zur Emanzipation des Mannes zur Emanzipation der Gesamtgesellschaft.“

    (aus: Jürgen Habermas, Silvia Boventschen u.a. – Gespräch mit Herbert Marcuse, Suhrkamp, 1978, S. 77)

    Marcuses Insistieren darauf, dass Männer keineswegs allgemein privilegiert sind, sondern ebenfalls unterdrückt werden – und zwar nicht ein bißchen, sondern durchaus stark – wäre für Gender-Feministinnen allerdings natürlich unannehmbar.

    Des Weiteren lehnte Marcuse bekanntlich die Auffassung, dass das Private politisch sei, ab:

    „Ich habe immer den Wert der Privatheit ungeheuer hoch geschätzt und kann mir keine anständige Gesellschaft vorstellen, in der dieser Bereich des Privaten nicht beschützt würde.“

    (aus: Gespräch mit Herbert Marcuse, in: links, Jg.5 (1974), Nr.60 (November 1974), S. 9 – 10.)

    “Solche individuelle Befreiung bedeutet jedoch ein Überwinden des bürgerlichen Individuums (…) und gleichzeitig eine Wiederherstellung jener Dimension des Ichs, der Privatheit, die einst von der bürgerlichen Kultur geschaffen wurde.“

    (aus: Herbert Marcuse – Konterrevolution und Revolte, Suhrkamp, 1973, S. 61)

    “Im äußersten Fall ‚löst sich’ der Konflikt zwischen privaten und öffentlichen Werten in völliger Gleichschaltung ‚auf’: das Indivduum denkt, fühlt und wertet privat, wie in der ‚öffentlichen Meinung’ gedacht, gefühlt und gewertet wird und wie dies sich in öffentlichen politischen Maßnahmen und Erklärungen ausdrückt. (…) Eine solche Gleichschaltung kann durch Terror, durch die standardisierenden Tendenzen der ‚Massenkultur’ oder durch eine Kombination beider erreicht werden. Die Kosten für das Individuum und für die Gesellschaft sind unvergleichlich größer, wenn sie durch Terror zustande kommt, und der Unterschied kann durchaus der zwischen Leben und Tod sein. Am Ende des Gleichschaltungsprozesses jedoch, nachdem die Konformität erfolgreich hergestellt wurde, ist die Auswirkung auf die Hierarchie der Werte tendenziell die gleiche: die individuelle Denk- und Gewissensfreiheit scheint ihren unabhängigen und unbedingten Wert zu verlieren und in der Vereinheitlichung von privatem und öffentlichem Dasein unterzugehen”

    (aus: Herbert Marcuse – Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S. 199 f.)

    „Der Drang nach mehr »Lebensraum« macht sich nicht nur in internationaler Aggressivität geltend, sondern auch innerhalb der Nation. Hier ist die Expansion in allen Formen der Zusammenarbeit, des Gemeinschaftslebens und Vergnügens in den Innenraum der Privatsphäre eingedrungen und hat praktisch die Möglichkeit jener Isolierung ausgeschaltet, in der das Individuum, allein auf sich zurückgeworfen, denken, fragen und etwas herausfinden kann. Diese Art Privatsphäre – die einzige Bedingung , die auf der Basis befriedigter Lebensbedürfnisse der Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens Sinn verleihen kann – ist seit langem zur teuersten Ware geworden, nur den sehr Reichen verfügbar (die keinen Gebrauch von ihr machen). Auch in dieser Hinsicht offenbart die “Kultur” ihre feudalen Ursprünge und Schranken. Sie kann nur (…) demokratisch werden, wenn es nämlich der Gesellschaft gelingt, die Vorrechte der Privatsphäre wieder herzustellen, indem sie sie allen gewährt und bei jedem einzelnen schützt. (…)
    Kann eine Gesellschaft, die außerstande ist, das private Dasein des Individuums auch nur in den eigenen vier Wänden zu schützen, rechtmäßig behaupten, dass sie das Individuum achtet und eine freie Gesellschaft ist? Sicher ist eine freie Gesellschaft durch mehr und grundlegendere Errungenschaften gekennzeichnet als durch private Autonomie. Und doch beeinträchtigt deren Fehlen selbst die augenfälligsten Institutionen der ökonomischen und politischen Freiheit – dadurch, dass in ihren verborgenen Wurzeln keine Freiheit anerkannt wird.”

    (aus: Herbert Marcuse – Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, dtv, 2008, S. 255 f.)

    Und dann sind auch noch Marcuses Vorstellungen von sexueller Freiheit (z.B. in seinem Buch „Triebstruktur und Gesellschaft“) mit den sexualrepressiven Aspekten des Gender-Feminismus unvereinbar (man denke an das sexualfeindliche gender-feministische Zustimmungsprinzip, Critical Hetness, Dämonisierung männlicher Sexualität, das derzeitige sexual-repressive Klima an US-amerikanischen Universitäten etc.).

    Es gibt also mindestens fünf zentrale Aspekte, in denen Marcuses Feminismus-Interpretation dem Gender-Feminismus deutlich widerspricht:

    – Marcuses Feminismus-Interpretation stellt eine eigentümliche Mischung aus gleichheits-feministischen und differenz-feministischen Aspekten dar. Die differenz-feministischen Aspekte sind aus gender-feministischer Perspektive geschlechter-essentialistisch und genau das, wogegen sich der Gender-Feminismus richtet.

    – Marcuse lehnt die Auffassung ab, auch das biologische Geschlecht sollte als soziale Konstruktion verstanden werden.

    – Marcuse lehnt die Auffassung ab, dass nur Frauen unterdrückt würden und dass Männer allgemein privilegiert seien, aus seiner Perspektive werden beide Geschlechter unterdrückt.

    – Marcuse lehnt die Auffassung ab, dass das Private politisch sei.

    – Marcuse bejaht sexuelle Freiheit und steht damit im Widerspruch zu den sexualrepressiven Aspekten des zeitgenössischen Gender-Feminismus.

    Kein Wunder also, dass Gender-Feministinnen in der Regel für Marcuse nichts übrig haben.
    Hier habe ich noch ein passendes Zitat aus einem Artikel zu Herbert Marcuses Ästhetik:

    „Marcuses Ästhetik hat einen anthropologischen Aspekt. Gegen kulturalistische Theorien insistiert sie darauf, dass es eine Naturbasis des Menschen gibt, die sich nicht, wie heute in der Sicht der „Gender Studies“, auf Kodierungen und Konventionen reduzieren lässt.“

    (aus: Gerhard Schweppenhäuser – „Ein Gemälde von Cezanne ist auch auf dem Klosett ein Gemälde von Cezanne“. Kunst, Alltagskultur und ready-made bei Marcuse, in: (Hg.) Rainer Winter & Peter V. Zima – Kritische Theorie heute, Transcript, 2007, S. 165)

  6. Im obigen Artikel heißt es:

    „Hierbei spielte auch noch eine undifferenzierte Übertragung von Jacques Derridas Versuch einer „Dekonstruktion der Metaphysik“ eine Rolle.“

    Dazu war kürzlich bei „Alles Evolution“ ein Gastartikel von mir erschienen, in dem ich auf diesen Aspekt ausführlicher (und mit Belegquellen) eingegangen bin.

    Ich verlinke ihn mal an dieser Stelle, falls es vielleicht einen Leser hier, der den Artikel nicht kennt, interessiert:

    Ideengeschichtliche Ursprünge des Konzepts binärer Oppositionen und dualistischer Hierarchien in der postmodernen Political Correctness

    https://allesevolution.wordpress.com/2017/05/31/ideengeschichtliche-urspruenge-des-konzepts-binaerer-oppositionen-und-dualistischer-hierarchien-in-der-postmodernen-political-correctness-gastartikel/

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